Zopfi, Emil
verheiratet. Sie hielt ihm einen Ring unter die Nase, das wars dann gewesen. Kein Wort, wer ihr Ehemann war, wenn es überhaupt einen gab, ob sie Kinder hatte, wer ihre Eltern waren. Nur tanzen, tanzen. Sie hatte ihn in den Club mitgeschleppt, hatte ihm die Grundschritte beigebracht, hatte ihn mit Tänzerinnen verkuppelt, die keine Partner hatten. So war die Idee zum Film entstanden. Die Geschichte eines Strassenkindes aus den Villas Miserias, das zur Tangokönigin der Stadt avanciert, mit Carmen in der Hauptrolle. Dokumentarisch, aber auch eine Art Musical. Viel Tanz, viel Lichteffekte, viel Musik. Milonga, Tango, Vals, Piazzolla, die ganze Palette. Und Tango Canción, Lieder von Carlos Gardel natürlich. Hermanns künstlerisches Vorbild war Fernando Solanas, sein Film «Tangos – El Exilio de Gardel». Das Exil der Tangokünstler zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur, als Gardels Songs verboten waren, der Tango geächtet.
Hermann schaltete die Videosequenz auf, die ihm am besten gefiel. Carmen dreht sich in einer Serie von Boleos in den Armen von Roberto, dem Tanzlehrermacho. Er setzt seine spitzen Schuhe präzis, millimetergenau neben ihre High Heels, sie schmiegt sich mit leicht vorgeneigtem Oberkörper an seine Brust und dreht sich leicht wie eine Schneeflocke im Wirbelsturm. Zurück und vor, zurück und vor, ihre Schenkel schnellen hoch, ihre Schuhspitzen tippen aufs Parkett. In Buenos Aires gab es wohl keinen Schnee, doch Hermann fand keinen besseren Vergleich für ihre Leichtigkeit. Vielleicht war sie jetzt in ihrer Heimatstadt, ausgeschafft oder zurückgekehrt, verzehrt von Sehnsucht nach ihrer Welt, ihrer Familie, von der sie nie etwas erzählte. Wahrscheinlich hatte sie gar keine, war ein Strassenkind ohne Eltern, herumgeschubst und missbraucht von düsteren Machos und Mafiosi. Den Menschenhändlern entronnen, und er war ihr Retter. Ihre Vergangenheit war Hermann egal, er betete sie an, er dachte an sie, wenn er im Bett lag und mit der Hand über die Falten seines alten Bauches fuhr.
Mein guter Freund, sagte Carmen. Du bist der beste von allen. Das wars dann. Der beste, mehr nicht. Er durfte sie auf die Wange küssen, auf den Handrücken, auf die nackten Schultern, mehr nicht. Sie war eine Diva, sie war eine Prinzessin. Inkarnation der grossen Calderón. Wahrscheinlich katholisch. Gelegentlich kam sie herunter, er drehte einen Joint, sie setzten sich auf den kleinen Balkon, rauchten, plauderten dies und das, und Hermann war glücklich.
Er schreckte aus seinen Träumen auf. Es hatte geklopft. Er horchte. Nichts. Dann klopfte es wieder und wieder. Es waren seine eigenen Finger, die auf den Tisch trommelten. El Choclo. Der Maiskolben. Der sentimentale Tango über eine Sängerin aus dem Slum von Buenos Aires.
Er sah auf den Tisch. Da lag das zerknitterte Kuvert der Filmkommission mit seinem Projekt, da lag sein Todesurteil. Er griff nach dem Umschlag, wog ihn in der Hand. Er kannte das. Wir danken Ihnen … zu unserer Entlastung zurück … Zusagen waren dünn, Absagen dick. Das war der Lauf der Welt. Er legte das Kuvert auf einen Stapel Papiere neben dem Bildschirm. Projekte, Manuskripte, Berichte, Gutachten, Manifeste, vergilbte Zeitungsartikel. Müll, nichts als Müll. Er war ein Verlierer, hatte alles versucht, nichts erreicht. Das Studium abgebrochen, das Erbe verschleudert, Monate für die Katz gearbeitet.
Hermann lehnte sich zurück. Er sah seinen Vater in dem Korbsessel aus Peddigrohr mit den geschweiften Armlehnen sitzen. Die Ellbogen hat er aufgestützt, die Brille mit dem feinen Metallrand und den Metallbügeln auf der Nase, die Zeitung aufgeschlagen. Er ist vertieft in die Lektüre. In der Küche das Klappern von Geschirr, seine Mutter am Abwaschtrog, in der Luft noch der Duft des Rollbratens. Sonntagnachmittag. Hermann büffelt für die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium Freudenberg, der Schuhmachersohn aus dem Kreis 4. Mathe war nicht seine Sache, doch wie stolz waren die Eltern, als er bestand, als einziger aus der Klasse. Von den Kollegen als Streber geächtet, am Gymi als Kind aus dem verrufenen Stadtteil ein Ausserirdischer.
Er schaltete den Computer aus, ging zur Kochnische, drückte Kaffeepulver ins Sieb des Espressokochers, zündete das Gas an. Durchs Fenster sah er graue Menschen mit grauen Regenschirmen auf der grauen Strasse dahinschlurfen, von den vorbeizischenden Autos angespritzt. Ein Briefträger in gelbem Ölzeug fuhr auf einem gelben Moped mit Anhänger zum
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