Zopfi, Emil
Kind an der Hand weg.
«Schon gut. Ich bin der Hermi.» Er fuhr dem Mädchen über den Kopf, ganz sacht und nicht zu lange. Er wusste, dass die jungen Mütter es nicht schätzten, wenn sich fremde Männer zu sehr für ihre Kinder interessierten.
Escher-Wyss-Platz. Noch bevor das Tram anhielt, erkannte er die Kontrolleure unter dem Schutzdach inmitten Wartender. Umgeben von einem menschlichen Schutzwall.
Die Frau drückte auf den Knopf.
«Kann ich Ihnen helfen?»
Sie nickte, hob das Mädchen hoch, hielt mit einer Hand ihren dreirädrigen Kinderwagen fest. Hermann stieg aus, fasste das schwere Gefährt vorn. Neben ihm wartete einer der Kontrolleure, stieg dann ein. «Fahrausweise bitte …»
Alle Schaltjahre mal schnappten sie ihn, etwa bei einer Grosskontrolle, wenn der Tramführer die Türen gar nicht öffnete und die Kontrolleure mit Polizeischutz einfuhren. Oder mal am Paradeplatz, wo es kaum je Kontrollen gab. Für ihn war das Schwarzfahren ein Teil seiner Weltanschauung. Er war Anfang der Siebzigerjahre für ein Gratistram auf die Barrikaden gestiegen. Schwarz-oder grünfahren, wie man auch sagte, war ökologisch sinnvoll, während der Privatverkehr gratis und ungestraft die Stadt verpestete. Das Abschaffen des Aufwands für das Verkaufen der Tickets, für die Kontrollen und so weiter könnte die halben Kosten der Verkehrsbetriebe einsparen, hatten sie damals argumentiert. Dafür sollten sie in grössere Kapazitäten investieren, was der Luft und der Umwelt zugute käme. Doch die Kampagne ging bachab. Die Leute zahlten lieber, liessen sich gern von Kontrolleuren mit Geheimpolizeimethoden drangsalieren, erstickten glücklich in den Abgasen des Verkehrs. Das Volk war dumm, dachte er manchmal. Wir sind das Volk, ja, aber es war noch nicht reif für die Demokratie, definitiv nicht. Lenin hatte schon recht gehabt mit dem demokratischen Zentralismus unter Führung der Partei. Man musste dem Glück der Menschen ein wenig nachhelfen. Aber Lenin war tot, seine Leiche nur noch eine halb verweste Touristenattraktion. Und so machte Hermann ganz privat den Sprung nach vorn, sein Tram war immer gratis. Einmal hatte er auch Kleber verteilt. Das Tram ist immer gratis! Steig ein!
Kein Wunder, wurden seine Gesuche für Filmbeiträge abgelehnt. Kein Wunder, wollte man ihm nun auch noch sein Haus unter dem Arsch abreissen. Kein Wunder, standen ihm die Schulden bis zur Nase. Doch, ein Wunder war geschehen: Robert war auferstanden, der alte Genosse. Es war, als sei die Zeit um vierzig Jahre zurückgefedert. Hermann zählte an den Fingern. Vierzig Jahre waren es, seit sie die Welt verändern wollten, mit Flugblättern, Zeitungen, Demos, Pflastersteinen, Molotowcoctails. Und mit einer selbst gebastelten Bombe.
Erst jetzt bemerkte er, dass die Frau neben ihm auf dem Trottoir ging und mit einer Hand den Kinderwagen schob, mit der andern das Mädchen an sich drückte.
«Kann ich dir helfen?»
«Geht schon», sagte sie trotzig, liess es aber zu, dass er den Wagen weiterschob. Die Haare hingen ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht. Eine randständige Mutter, dachte er, alleinerziehend, das übliche Elend.
«Wo wohnst du?»
«Im Kraftwerk.»
Hermann kannte die Siedlung, ein Projekt, das vor Jahren aus der Hausbesetzerszene hervorgegangen war. Im damals noch ziemlich heruntergekommenen Industriequartier. Heute eine hippe Gegend. Aus Besetzern waren Besitzer geworden. Verfügten über Millionen und fuhren noch immer Velo.
«Warum bist du im Escher Wyss schon ausgestiegen?»
«Da waren Kontrolleure.»
«Ach so», Hermann grinste. «Grünfahrerin wie ich.»
Nun lachte sie auch ein bisschen, der verhärmte Zug wich einem Anflug von Schalk.
«Ich muss an die Förrlibuckstrasse. Kommst du zurecht?»
«Geht schon.» Sie griff mit einer Hand nach dem Wagen, das Mädchen schlief fest an ihrer Schulter.
Hermann sah ihr nach. Vielleicht hätte ich sie begleiten sollen. Er spielte mit dem Gedanken, ihr nachzulaufen. Ihr das Mädchen abzunehmen, das Papi zu ihm gesagt hatte. Ein bisschen Papi oder Opa spielen. Es war vielleicht einer der Momente im Leben, die alles änderten. Eine der entscheidenden Sekunden. Verpasst, verpasst wie so vieles, verpasst wie alles.
Er ging über die Strasse. Sieh dich nicht um. Eine Gedichtzeile im Kopf.
Schnür deinen Schuh .
Es kommen härtere Tage .
Ingeborg Bachmann, Maturalektüre. Einst hatte er Dichter werden wollen. Auch da wohl die entscheidende Sekunde verpasst, verschlafen, versoffen.
Über
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