Zopfi, Emil
2001. Tscharner lanciert Initiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer. Tscharner schmal mit langen Haaren, Tscharner fett mit Doppelkinn, Hamsterbacken und spärlichem Haar. Kantonsrat Anton Tscharner mit Gattin und zwei Kindern in ihrem Heim in Küsnacht. Biografie eines Opportunisten, eines ehemaligen Linken, der nun zum Wortführer der Rechten geworden war. Im Tram hatte er ihn nie gesehen, Leute wie Tscharner fuhren nie mit Bus oder Tram. Im Rat stimmten sie gegen alle Kredite zur Förderung des Öffentlichen Verkehrs.
Pippo schenkte sich nochmals nach, der Kaffee kleckerte übers Papier. Sein Magen krampfte sich zusammen. Ich bin krank, dachte er, ich mache es nicht mehr lang. Nach der kalten und feuchten Nacht schmerzten seine Schultergelenke so heftig wie schon lange nicht mehr. Er drückte eine Tablette aus der Folie, spülte sie mit Kaffee hinunter. Kortison. Das letzte Mittel. Wenn Leinöl und Alkohol nicht mehr halfen. Dann noch ein Aspirin, fürs Herz.
Er schob die ausgebreiteten Papiere zu einem Bündel zusammen, steckte sie in die Mappe. Toni hatte ihn damals im Auftrag der Bundespolizei besucht, er wollte ihn auch über Robert aushorchen. Dachte wohl, die Genossen hätten noch Kontakt. Doch Roberts Spuren hatten sich verloren. Erst jetzt war er aufgetaucht aus dem Nichts. Und die alte Wut kochte wieder hoch. Der Hass auf den Verräter. Auf den Wendehals, den sie geschützt hatten. Der sie ans Messer lieferte. Und der sich nun als Spitzenpolitiker und Medienmogul feiern liess. Eine Taschenausgabe von Berlusconi.
Ein Stich fuhr durch Pippos Leib. Links unter dem Brustbein. Vielleicht der Magen, vielleicht das Herz. Es war ihm egal. Sein Körper war eine Ruine. Es blieb nicht mehr viel Zeit, er ahnte das. Etwas musste geschehen. Jetzt oder nie mehr.
Hermann erwachte von einem Geräusch, das wie das Röcheln eines Menschen in den letzten Zügen klang. Rosarote Dämmerung umhüllte ihn. Das Licht fiel durch Tüllvorhänge in ein Zimmer, das ihm unbekannt vorkam. Rosa Licht und Rosenduft. Wie ferne Meeresbrandung rauschte Verkehr, untermalt vom Wimmern einer Ambulanz, dem Gesang der Sirenen. Das zum Schnarchen anschwellende Röcheln drang aus einem Berg von zerwühlten Kissen, Leintüchern, Decken, unter dem ein Schwall schwarzer Haare hervorkringelte neben einem rosig prallen Arm, eine Hand mit rot lackierten Nägeln. Er versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie er in dieses Gemach gekommen war und wo seine Kleider geblieben waren. Er stützte sich sachte hoch, erschrak, als er einen Eisbär am Boden neben dem Wasserbett liegen sah. Seine glasigen Augen funkelten, doch die Bestie war zum Glück nur aus Plüsch. Der Berg bewegte sich, das Schnarchen setzte kurz aus, änderte die Tonart, ging weiter.
Hermann robbte zur Bettkante. Ruth hiess die Frau, fiel ihm wieder ein. Die Tangostunde, das Taxi am Escher-Wyss-Platz, der Pfefferminztee in der Küche der kleinen Wohnung, die Dusche. Alles wie gehabt, aber er war zu müde gewesen für alles weitere. Sein Körper schlaff von oben bis unten. Er hatte sein Bestes gegeben, aber eben. Er war ein alter Mann und Ruth keine Venus, sondern eine Rubensfrau, wie man solche Schönheiten politisch korrekt bezeichnete. Er hatte die Sache auf den Morgen vertagt, doch nun war er verkatert, und sein einziges Ziel war, unbemerkt zu entkommen. Er schämte sich, dass er versagt hatte. Der rote Hermi, einst Liebling aller Damen!
Weder im Bad noch in der Wohnküche fand er seine Klamotten. Auf dem Tisch stand eine Flasche, ein Glas mit einem Rest Wein, in einer Tasse ein eingetrockneter Teebeutel. Der Geruch des Weins verursachte ihm Übelkeit. Die Wohnküche war vollgestopft mit abgenutzten Möbeln, die einst wohl in einer grösseren Wohnung gestanden hatten. Ruth war geschieden, vermutete er, ihr Ex mit einem zwanzigjährigen Amateurmodell abgehauen.
Plötzlich fühlte Hermann so etwas wie Mitleid mit der Frau, die in so trostlosen Umständen hauste. Gerümpel im Parterre, ein mit Müll und schrottreifen Autos verstopfter Hinterhof, auf dem drei dunkelhäutige Kids auf Velos herumkurvten und sich die Seele aus dem Bauch kreischten. Die dicke Ruth suchte ihr Glück in der Tangoszene, untalentiert und ein bisschen neben den Schuhen. Vielleicht, so ging Hermann durch den Kopf, gibt es sogar eine kleine Rolle für sie in meinem Film. Porqué no? Sozusagen als Kontrapunkt zur grazilen Carmen. Tango war doch eine Auflehnung gegen die soziale Misere, Tango war getanzte
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