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Zopfi, Emil

Zopfi, Emil

Titel: Zopfi, Emil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Spitzeltango
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Gepäck war wohl endgültig verloren. Egal. Er suchte Saras Grab. Ein Urnengrab. Ein Friedhofsarbeiter in gelbem Ölzeug und Regenhut wies ihm den Weg zur Urnenwand.
    Robert schritt von Grabplatte zu Grabplatte, suchte Sara Hofstetter, geboren 1952, gestorben 1974. Sie hatte sich in der U-Haft erhängt, das Leintuch in Streifen gerissen, einen Strick draus geflochten, so wie sie manchmal ihre langen Haare zu einem Zopf flocht. Sara. Seine grosse Liebe. Sie habe die Gruppe verraten, ging das Gerücht unter Genossen. Er hatte es nie geglaubt. Sara war keine Verräterin, sie war eine Heilige. Sie war die Heilige Johanna der Bewegung, die Jeanne d’Arc der 68er. Klein war sie, staunende braune Augen, die sich nie auf einen fokussierten. Sara war schwer kurzsichtig, trug aber nie eine Brille. Alle liebten sie und sie liebte alle. Sie dachte wohl, sie schulde der Revolution auch ihren Körper. Das Schuldgefühl der Tochter eines Bonzen von der Goldküste, ihre Mutter irgendwo, kaum mehr Kontakt. Studentin ohne Studium. Die einzige wahre Liebe.
    Sara, Sara … flüsterten seine Schritte im Kies. Er war am Ende des Friedhofs angelangt, beim Krematorium, einem barocken Kuppelbau. Nur wenige waren zur Abdankung gekommen, Hermann und Pippo noch in U-Haft. Ihn hatte man entlassen. Toni zeigte sich nicht. Er fürchte, es könnten sich Polizisten in Zivil unter die Trauergäste mischen, liess er mitteilen. Er war es, der das Gerücht verbreitete, Sara sei die Verräterin. Schwarze Limousinen rollten ein, der Vater grau und zerstört. Sein Vertrag bei Moraves war aufgelöst, Stoff für die Boulevardpresse: Tochter von Direktor in Bombenanschlag verwickelt. Der entwendete Schlüssel hatte die Fahnder auf die Spur geführt. Eine Frau, bleich und blond hinter schwarzem Hutschleier, die Mama. Robert war weggegangen, geflohen. Er mochte nicht mit dieser Gesellschaft Abschied nehmen von seiner Liebe. Er war durch den Friedhof spaziert, allein, Sonne im Herbstlaub der Kastanien. Das Grab in der Urnenwand schon vorbereitet. Einmal in all den Jahren hatte er es besucht und eine Rose in den Halter gesteckt. Nun fand er es nicht mehr. Gräber werden nach fünfundzwanzig Jahren aufgehoben, fiel ihm ein. Auch Saras Grab, also keine Spur mehr von ihr auf dieser Erde. Nur noch in seinem zerfallenden Gedächtnis. So klar, als ob es gestern gewesen wäre.
    Er schreckte aus seinen Gedanken, als sein Smartphone schrillte. Der Koffer fiel ihm ein, aber es war Marilyn. Er verstand sie kaum, ihre Stimme klang weit entfernt. Von einem eigenartigen Anruf erzählte sie, ohne zu fragen, wie es ihm gehe. Sie schien erregt.
    «Was ist los, Rob?»
    Sie hörte nicht auf ihn, auf seine Ausflüchte.
    «Jemand fragte nach dir. Dein Vortrag. Man habe dich gesucht. Sag mal, Honey, wo steckst du? Du hast doch den Vortrag gehalten? Warum ruft denn jemand an?»
    «Beruhige dich, alles ist in Ordnung. Es gab Umstellungen im Programm. Ein Missverständnis. Ich sagte dir doch, der Vortrag war ein Erfolg.»
    «Die Dame, es war eine Dame, die angerufen hat, die Dame sagte, sie sei vom Sekretariat der Universität. Man sei besorgt. Im Hotel habest du nicht eingecheckt, sag mal …» Ihre Stimme stockte. Sie war misstrauisch, wusste wohl von seinen Affären, doch das war ein Tabu. So lange ihre Kirchgemeinde nichts erfuhr, konnte er mit allen Frauen der Welt ins Bett.
    «Ich musste das Hotel wechseln. Das Zimmer war mir zu lärmig.»
    «Wo bist du denn jetzt? Sag mir doch, wenn etwas ist … du kannst mir alles sagen, Honey, bitte …» Jetzt schluchzte sie. Wie immer.
    «Es ist alles in Ordnung, Liebste», sagte er. «Es ist gar nichts. Ich komme bald nach Hause. Grüss mir Dora.»
    Sie gab keine Antwort mehr. Er verabschiedete sich, hängte auf. Sah auf die Uhr. Sein Vortrag wäre vorbei. Max Frisch blieb ungeschoren. Sein gebrochenes Amerikabild unhinterfragt. Der Mangel an politischem Bewusstsein unter den Intellektuellen hier ist entwaffnend, schrieb Frisch einmal. Robert hätte diesen Satz widerlegt, doch insgeheim empfand er genau so. Er hatte all die Jahre politische Gespräche vermieden, seine Kritik an der Politik der USA verdrängt. Er hatte gewählt. Er war Amerikaner geworden. Nun spürte er, wie dünn der Panzer war, den er sich zugelegt hatte, eine Eierschale, und eigentlich schon zerbrochen. Wegen eines Koffers, der nicht angekommen war. Sein Vortrag wäre nichts als Lüge gewesen. Eine weitere Lüge in seinem Leben.
    Ein Tram klingelte. Der Dreier von

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