Zopfi, Emil
Nachbarin noch erzählt.
«Heiliger Bimbam», rief Hermann aus. Tscharner hatte gewusst, dass die Motorradgangster Martin Kunz verfolgt und bedroht hatten. Er hatte womöglich den Auftrag dazu gegeben, um ihn mundtot zu machen. Martin hatte zu viel über seine Vergangenheit gewusst. In der Baukommission des Gemeinderates hatte sich Martin gegen die Interessen der Spekulanten gestellt, Freunde des Kandidaten. Wurde der Videoclip öffentlich, so war Tscharners Wahl ins Stadtpräsidium gelaufen. Jedenfalls hatte er ein Problem, ein wirkliches. Das war nicht Schnee von gestern wie seine Spitzelei und der Verrat vor Jahrzehnten.
«Was ist denn? Warum regst du dich so auf?» Ruth legte eine Hand auf seine Schulter, in der andern hielt sie eine Tasse Kaffee.
«Augenblick noch.» Mit dem Kinn schob er ihre Hand weg. Tippte hastig mit zwei Fingern, vertippte sich immer wieder und schimpfte vor sich hin.
«Was ist denn los?»
«Tscharner ist ein Mörder.»
«Wenn nur du keiner bist.»
Ruth stellte die Tasse ab, zauste seine offenen Haare und liess ihn allein. Endlich gelang es Hermann, den Videoclip auf Youtube hochzuladen. Er schrieb dazu: «Anton Tscharner kennt die Mörder von Martin Kunz.» Dann schickte er ein Mail an Viktor bei TeleLimmat. Hoffte, er sei noch im Studio.
Der Kaffee war schon lauwarm. Er ging zum Schlafzimmer, öffnete leise die Tür. Ruth lag auf dem Rücken und schnarchte. Die Decke war auf den Boden gerutscht, ihr nackter Körper sah bleich aus in der Dämmerung. Eine fette weisse Raupe, dachte er. Sie verpuppt sich, eines Tages erwacht sie, sprengt ihre Hülle, ein Schmetterling entfaltet seine Flügel. Eine prickelnde Welle durchschauerte seinen Körper, ein längst vergessenes Gefühl. Es war ihm, als habe auch er sich aus einer Hülle befreit, aus einem alten vertrockneten Kokon. Er war siebzig geworden, es war an der Zeit, die letzten Jahre ins Auge zu fassen.
Was waren wir doch für Dummköpfe, sagte er sich. Ein cleverer Typ mit Krawatte und Köpfchen lässt uns alt, uralt aussehen. Er kämpft nicht mit Geschrei, Flugblättern, Transparenten, erhobenen Fäusten und gebastelten Bomben. Seine Mittel sind diskret, Computercode und ein fundiertes Wissen um die Geheimnisse der Datenwelt. Pippos Sohn vielleicht. Oder die Junge mit dem Pakol.
Ruth drehte sich im Schlaf zur Seite, das Schnarchen ging in ein Röcheln und dann in ruhige Atemzüge über. Hermann betrachtete ihren schönen breiten Rücken, entdeckte ein Muttermal, das aussah wie eine Insel in einem weissen Meer. Bali, dort hatte seine grosse Reise geendet. Er fühlte sich so wach wie schon lange nicht mehr, wandte sich ab, zog die Tür zum Schlafzimmer sacht ins Schloss. Der Computer meldete mit einem Tingeln eine E-Mail. Heisse Story. Tscharner hauen wir in die Pfanne! Grazie, Hermi. Viktor.
Hermann sass eine Weile mit gefalteten Händen am Tisch, blickte durchs Fenster auf die Strasse. Ein Putzwagen der Stadtreinigung holperte den Randstein entlang, am Steuer sass ein fröhlicher Afrikaner. Kreisende Bürsten schoben Papierfetzen, Bierbüchsen und Plastikbecher zusammen. Eine junge Frau auf einem Velo fuhr vorbei, eine Verschleierte schob einen dreirädrigen Kinderwagen auf dem Gehsteig. Mit einer Hand drückte sie das Mobiltelefon ans Ohr und redete mit Freunden oder Verwandten irgendwo auf der Welt. Am Strass enrand waren Zeitungsbündel aufgestapelt. Schräg gegenüber hob ein Kran Gerüstrohre in die Höhe. Zürich erwacht, dachte Hermann.
Er nahm den letzten kalten Schluck aus der Kaffeetasse, griff nach einer alten Zeitung auf dem Stapel. Darunter lag ein dickes Kuvert. Signet der Filmstiftung. Er starrte darauf, las seine Adresse. Mit einem Finger riss er den Umschlag auf. Zog einen Brief heraus, überflog den Text … freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, dass wir Ihr Filmprojekt «Tanguerilla» mit einem Betrag von CHF 50 000 unterstützen können …
In einem Umschlag lagen zwei Mappen mit Verträgen … genau zu studieren und im Doppel unterzeichnet an uns zurücksenden … alles Weitere …
Hermann schob den Brief und die Verträge in den Umschlag zurück, legte ihn auf den Stapel mit alten Zeitungen neben dem Spülstein. Er holte aus dem Schrank Bindfaden, schnürte das Zeitungsbündel und trug es durchs Treppenhaus hinab. Draussen legte er den Bund auf den Stapel am Gehsteig. Dann ging er ein Stück die Zwinglistrasse entlang, blieb bei der Baustelle stehen und sah den Arbeitern zu, die am Gerüst bauten.
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