Zopfi, Emil
nun auf diesem Stick, dass Sie mich mitten in der Nacht aus dem Bett holen?»
«Pippo besitzt Pistole.» Mehmed zielte mit zwei Fingern auf seine Schläfe. «Wir haben Schuss gehört! Polizei …»
«Au, verdammte Scheisse!»
Hermann hatte eine plötzliche Eingebung, stürzte die Treppe hinauf, schob Ruth beiseite, die in seinem Bademantel unter der Tür stand, schaltete mit der Fussspitze den Stromverteiler ein. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das System hochfuhr. Mit dem nackten Fuss trommelte er auf den Boden.
«Komm schon, komm schon.»
«Meinst du mich?» Ruth legte ihre Hand auf seine Schulter. «Möchtest du Kaffee?»
Hermann nickte ungeduldig. Sie machte sich am Herd zu schaffen, als sei sie hier zu Hause.
Die Stumme war verschwunden. Robert fühlte sich, als habe man ihm alle Knochen gebrochen. Mühsam richtete er sich auf, die Decke war zu Boden gefallen. Er wickelte sie um sich. Eine muffige Militärdecke mit rotem Streifen und Schweizerkreuz. Als er auf die Füsse zu stehen versuchte, zuckte ein elektrischer Schlag durchs Gelenk. Sein linker Fuss war geschwollen, offenbar beim Sturz in den Graben verstaucht, vielleicht gebrochen. Hinter dem Auge bohrte der Schmerz. Gehirntumor, dachte er. Hörte Marilyns hysterisches Lachen. You are a hypochondriac.
Er hatte wohl geträumt, sass in Wirklichkeit in der Waldhütte in der Sierra, auf einem Hike mit einem Kollegen von der Fakultät auf den Spuren von Jack Kerouacs Buch «The Dharma Bums». Unterwegs waren sie zweimal in einem Bordell abgestiegen, abseits des Highways in den Plains. Das gehört sich so, meinte der Kollege, wenn wir schon Kerouacs wilden Trips nachspüren. On the Road, wie die Verrückten der Beat-Generation. Und Nietzsche ein halbes Jahrhundert früher. Das Buch war verschwunden, samt der stummen Leserin.
Robert trat vor die Hütte. Es dämmerte. Zwischen den Baumwipfeln über der schmalen Lichtung sah er einen bleichen Himmel. Die Luft war schneidend kalt, das Wetter schien besser zu werden. Er musste hier weg! Er versuchte sich zu erinnern, wann sein Flug ging. Zählte die Tage an den Fingern ab. Er war angekommen, ohne Koffer. Hatte in einem besetzten Haus übernachtet. Ariane? Sie war ihm abhanden gekommen, vergessen. Wie manche Nacht hatte er im besetzten Haus auf dem Sofa zugebracht? Keine Ahnung mehr. Hatte er Saras Grab vor oder nach der Abdankungsfeier für Martin Kunz besucht? Wann Max Frischs Steinquader auf dem Rosenhof betastet? Wann die alten Genossen getroffen im «Coopi»? Sein Flug ging bestimmt schon an diesem Tag. Spätestens morgen. Wenn er ihn erreichte, war er gerettet.
In der Innentasche seiner Jacke fand er das Ticket, er las Datum und Zeit des Abflugs. Check-in kurz vor Mittag. Das Datum verunsicherte ihn. War es heute, war es morgen? Er musste weg, hinab in die Stadt, sich informieren, sich zum Flughafen durchschlagen. Aber wie?
Er trat in die Hütte zurück. Im Krug war noch kalter Tee. Er nahm einen Schluck. Ein Brötchen war angeschimmelt, die Joghurts waren mehrere Wochen über dem Datum. Er hatte Hunger, aber die Vorräte der Stummen ekelten ihn. Wenn es die Frau überhaupt gab. Ihr Gesicht, die spitze Nase. Alles Sara. Die Stumme war Sara, sie war für ihn nochmals in diese Welt zurückgekehrt, hatte ihn liebevoll mit einer Decke zugedeckt, sonst wäre er erfroren in der Nacht. Ein Engel. Es war das Zeichen, dass sie ihn, nur ihn liebte.
Und wenn Toni doch recht hatte, wenn sie die Verräterin gewesen war? Eingeknickt vor ihrem Vater. Es gab keine Beweise, sie hatte geschwiegen. Die Stumme war Sara. Sie hatte sich nicht erhängt im Gefängnis, sie lebte in der Waldhütte als Wiedergängerin ohne Alter. Eine unbestimmte Furcht packte ihn, hastig verliess er die Hütte, zog die Tür hinter sich zu.
Robert quälte sich den Abhang hinauf zum Weg. Ein verdorrter Ast diente ihm als Krücke. Er humpelte den Pfad entlang durch eine Schlucht, über eine Brücke aus glitschigen Balken, dann auf einen Grat. Nach einiger Zeit erreichte er einen steilen Weg, der in Windungen bergab führte. In regelmässigen Abständen standen gusseiserne Laternenpfähle am Rand, die Lichter brannten noch. Der Laternenweg, er erinnerte sich. Der Gedenkstein des abgestürzten Bergsteigers. Steil ging es den kiesbedeckten Weg hinab. Wenn er rutschte, zuckte der Schmerz durchs lädierte Gelenk. Eine Frau mit einem schwarzen Hund an der Leine kam ihm mit leichtem Schritt entgegen. Sie blieb in einer Kehre stehen, damit er
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