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Zopfi, Emil

Zopfi, Emil

Titel: Zopfi, Emil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Spitzeltango
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Das Haus mit der blätternden Fassade war einmal eine Bäckerei gewesen, aber schon länger verlassen und heruntergekommen. Als Junge hatte Hermann bei der Bäckerin Kaugummi gekauft mit Bildchen von Velorennfahrern, Hugo Koblet, Ferdi Kübler, Fausto Coppi, Gino Bartali. Idole seiner Jugend. Der grosse Koblet war als Bäckerssohn in der Nähe aufgewachsen. Wer kannte die Namen der alten Helden noch, wer wusste noch, wie eine Bäckerei roch, eine richtige Bäckerei? Oder der Laden und die Werkstatt eines Schuhmachers? Hermanns Haus war eines der letzten dieser Strasse, die noch aussahen wie einst. Die Farbe löste sich in Schuppen von den Fensterläden, die Fassade trug schwarze Spuren vom Russ der Autoabgase und der Heizungen, die Wand neben der Toreinfahrt war mit Graffiti versprayt. Der Geruch von Leder, Schweiss und Juchtenfett längst verweht.

    Robert folgte der Tramlinie zur Stadt hinab. Sein Kleingeld hatte nicht gereicht, um am Automaten ein Billett zu lösen. Schwarz zu fahren war nicht ratsam.
    Der verstauchte Fuss schmerzte beim Gehen, doch aus seiner Zeit als Handballer war er sich Verletzungen gewöhnt. Gebrochen war das Fussgelenk nicht. Er kam am Schützenhaus Albisgüetli vorbei, ein kitschiger Bau mit Türmen und Erkern, einem Schloss nachempfunden. Als Junge hatte er im Schiessstand nebenan am Knabenschiessen teilgenommen, das jeden September stattfand. Getroffen hatte er schlecht, er hatte beim Schiessen gezittert. Dank dem Gutachten eines befreundeten Psychiaters musste er später keinen Militärdienst leisten. Pippos Schuss hatte ihn zu Tode erschreckt, das Pfeifen in seinem Ohr hörte nicht mehr auf. Ein Knalltrauma wahrscheinlich. Pippo war schon früher unberechenbar gewesen, ein Innerschweizer Bauernschädel und Anarchist, jähzornig und hilfsbereit. Er kannte sich mit Waffen aus, er hatte damals die Bombe gebastelt mit dem alten Wecker als Zeitzünder.
    Bei einer Haltestelle entstieg dem Tram ein Strom schwarz gekleideter Herren und Damen, der sich auf Bürogebäude zu bewegte, gigantische Waben aus Glas und bräunlichem Metall. Credit Suisse. Im Vorbeigehen zupften die schwarzen Arbeitsbienen Gratiszeitungen aus einem Blechkasten, überflogen im Gehen die Schlagzeilen.
    Robert schnappte sich ein Blatt. «Morgarten am Uetliberg!» stand über einem Bild auf der Frontseite, das einen orangeroten Triebwagen der Uetlibergbahn mit eingeschlagenen Scheiben zeigte, davor Polizei in Kampfmontur. Autonome hätten einen Zug mit Sympathisanten und Mitgliedern der Volkspartei überfallen, die zur Wahlveranstaltung auf den Uetliberg wollten. Es habe Verletzte gegeben, ein Dutzend Verhaftungen nach einem Einsatz mit Gummigeschossen und Tränengas.
    Robert steckte die Zeitung in einen Abfallkübel, drängte sich durch die Bankangestellten, die ihren klimatisierten Büros und Bildschirmen zustrebten. Sie lasen Gratiszeitungen statt Flugblätter. Die neue Arbeiterklasse hatte kein politisches Bewusstsein mehr. Victor Jaras Song ging ihm durch den Kopf. Plötzlich waren die Worte da. So klar, als höre er Jara zur Gitarre singen, eine Melodie im Takt der Schritte auf dem Asphalt. Caminando, Caminando …
    Ich gehe, gehe ,
    ich suche die Freiheit ,
    ich hoffe, den Weg zu finden ,
    um weiterzugehen .
    Wie lange brauche ich schon, um
    anzukommen ,
    wann bin ich losgegangen ,
    wie lange schon gehe ich ,
    seit wann gehe ich .
    Robert wusste, dass er nie mehr ankommen würde. Er musste das Land verlassen, so schnell es ging und für immer. Die Erinnerungen hinter sich lassen, die Alpträume, die alten Genossen, die alten Geschichten. Das alte Leben. Er war Rob Brown, nicht Robert Brönimann.
    Die Banker, die über den Gehsteig ihren Glaswaben zustrebten, beachteten ihn kaum. Der eine oder andere wich aus, als sei er ein Randständiger. So sah er auch aus, und so roch er. Er stank nach Pisse, nach Schweiss und nach Angst. Ich brauche neue Kleider, sagte er sich. Und dann zum Flughafen. In Chicago würde er eine Bleibe finden und von seiner Pension leben. Marilyn vergessen. Gelegentlich mit seinem Enkel Jonathan im Lincoln Park am Ufer des Michigansees spazieren oder im Science Museum einen 3-D-Film über Pinguine anschauen. Vielleicht seine gleichgültige Geliebte wieder aufspüren, die nach Madison gezogen war … Er sah vor sich ein blasses Bild ihres Barbiekörpers, ihrer Augen, die ins Leere blickten, wenn sie auf ihm sass und Liebe vortäuschte. Ihren Namen hatte er eben noch gewusst, nun war er weg.
    Am

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