Zopfi, Emil
Südausgang der Stadt kam er durch eine Bahnunterführung in ein Einkaufszentrum, das er nicht kannte. Riesige Lettern an einer Fassade: Sihlcity. Früher war da eine Papierfabrik. Jetzt ein verschachtelter Komplex von Gebäuden, Büros, Boutiquen, Rolltreppen, Starbucks und Burger King. Ein Hochkamin aus Backstein war stehen geblieben, als Wahrzeichen und Erinnerung offenbar. Eine weite Mall war noch unbelebt, Schaukeln aus Plastik standen herum, eine Holzhütte mit einem Plakat für Fondue.
Auf eine Betonwand war mit Schablone ein Slogan gesprayt. «Bildet Banden. Unterminiert die Wüste.»
Es gab also auch hier noch Widerstand.
Er drückte eine Hand aufs rechte Auge, das dämpfte den Schmerz tief drin. Im Hirn und im Herz. Die Mall hatte etwas Amerikanisches. Sihlcity war nicht weit von Iowa City. Der Campus mit dem Hauptgebäude der Universität, seinen Säulen, der goldenen Kuppel mit dem Sternenbanner. Die Schachtelarchitektur der Clinton Street, das Java House und Marilyn mit dicken Freundinnen bei Kuchen und Kaffee.
Robert hatte Hunger. Sein Kleingeld würde für einen Kaffee und einen Muffin im Starbucks reichen. Zwei Girls in grünen Schürzen klapperten am Office mit Geschirr, tuschelten und warfen ihm Blicke zu. Er holte seinen Kaffee und das Gebäck auf einem Tablett. «Kann ich nachher bezahlen?»
Die Girls sahen sich an. «Wie Sie wünschen», sagte eine.
Er setzte sich an einen runden Tisch, der noch feucht war vom Putzen. Den Kaffee trank er so schnell, dass er sich den Mund verbrannte, verschlang den Muffin in gierigen Bissen. Auf einem Grossbildschirm erklärte eine Moderatorin die Wetterkarte, deutete mit spastischen Gesten auf Sonnen-und Wolkensymbole. Es würde ein schöner Herbsttag werden, verstand er. Sehr kalt für die Jahreszeit. Das spürte er auch ohne Wetterbericht, er war noch immer durchfroren. Im Lokal war es noch nicht richtig warm.
Eine der jungen Frauen räumte den Tisch nebenan ab, dabei las er ihren Namen auf einer Plakette. Sara. Irritiert sah er ihr nach, als sie mit Geschirr auf einem Tablett vorbeiging. Ihr Blick, ihr Lächeln, als würden sie sich kennen. Sie glich der Stummen aus der Waldhütte, Saras Wiedergängerin. Oder Ariane, seiner Bekannten aus dem besetzten Haus, die plötzlich verschwunden war. Rowena … der Name seiner Geliebten war wieder da. Er sah die junge Marilyn in Cuernavaca vor sich. Die Bilder in seinem Kopf vermischten sich. Er musste weiter, sonst wurde er verrückt.
Er winkte der Frau, die Sara hiess. «Wünschen Sie noch etwas?» Sie blieb vor seinem Tisch stehen, das Tablett wie ein Schild vor der Brust.
«Welches Datum ist heute?»
Sie deutete auf einen Kalender an der Wand. Robert verglich die grosse Zahl mit seinem Ticket. Es war Freitag, sein Flug ging in wenigen Stunden. Er wollte gehen, setzte sich aber gleich wieder, als zwei Polizisten das Café betraten. Sie sahen sich um, musterten ihn, als ob sie jemanden suchten. Er blätterte durch die Gratiszeitung, die auf dem Tisch lag, ohne zu lesen oder Bilder zu betrachten. Die beiden gingen zur Theke, schäkerten mit den Girls und verliessen das Café mit Pappbechern in der Hand.
Robert legte die Zeitung weg. Auf dem Fernsehschirm sah er einen Mann in einem Spitalbett, umgeben von medizinischem Gerät. Ärzte mit angestrengt besorgten Gesichtern, Pflegerinnen. Die Stimme des Sprechers: «Anton Tscharner, Kandidat fürs Stadtpräsidium, liegt verletzt im Triemlispital. Laut dem leitenden Arzt kann er das Spital in ein oder zwei Tagen verlassen. Tscharner wurde gestern Abend vor der geplanten Wahlveranstaltung auf dem Uetliberg von zwei Männern angegriffen und niedergeschlagen. Einer der Täter wurde nach einer Schiesserei verhaftet, der andere ist noch flüchtig.» Tscharners Hamstergesicht in Grossformat, die Lippen zuckten, die Augen glotzten in die Kamera. Der Kopf verbunden, ein Auge verdeckt. Volltreffer, Robert. «Inzwischen ist im Internet ein Video aufgetaucht, das Tscharner mit dem Tod von Gemeinderat Martin Kunz in Verbindung bringt …» Robert stand auf, trat näher. Unscharfe Bilder flackerten über den Schirm. Zwei langhaarige Ledermänner mit wilden Bärten, Tscharners Mundart, unverkennbar. «Ich habe nichts zu tun mit der Sache, verstanden?»
«Offenbar hatte Anton Tscharner doch etwas mit dem angeblichen Unfall zu tun.» Die Stimme des Sprechers hatte einen polemischen Ton angenommen. Sprach von alten Geschichten, Abrechnungen unter alten Kameraden, dunklen Punkten
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