Zopfi, Emil
sich hoch, ihn schwindelte. Er hielt sich am Tisch fest, wankte zur Tür, schob den Riegel. Sein Sohn stand im grauen Morgen, in einem zerknitterten Anzug, mit offenem Kragen, unrasiert. Sie sahen sich an, verlegen und gehemmt. Sonst war niemand zu sehen. René machte einen kleinen Schritt auf ihn zu.
«Papa, ich bin da», sagte er nochmals. Dann umarmten sie sich. Pippo drückte ihn an sich, weinte haltlos und laut. Sein Körper bebte, er erdrückte seinen Sohn beinahe.
«Es wird alles gut», sagte René mit erstickter Stimme. «Ich habe Amacher benachrichtigt, du kennst ihn sicher. Wenn es dir recht ist.»
Amacher, Anwalt in einem linken Kollektiv, hatte für Pippos Gewerkschaft gearbeitet. Hatte politisch Karriere gemacht bei den Sozis, eine Zeitlang Nationalrat, eine Attikawohnung im Seefeld, Feriensitz in der Toskana. Ein Cüplisozialist. «Schon recht. Danke, René.»
Pippo hatte nicht bemerkt, wie die Polizisten in den Garten gekommen waren, die nun um sie herumstanden. Wie durch einen Schleier sah er sie in voller Montur, Helm auf dem Kopf, Panzerwesten, Maschinenpistolen auf ihn gerichtet. «Wir müssen Sie festnehmen, Herr Schwyter.»
Pippo wehrte sich nicht gegen die Handschellen, die sie ihm anlegten.
«Muss das sein?», fragte René.
«Schon gut. Ich kenne das.»
René ging neben ihm her, als sie ihn zum Höhenweg hinabführten. Amacher sei unterwegs zur Hauptwache, er hoffe, dass er U-Haft vermeiden könne. Ein Urteil werde es schon geben, ein Hund sei verletzt. Pippo nickte. Er sah, dass Greta vor ihrem Gartenhaus stand, neben ihr Mehmed. Sie hielt ihre Hände gefaltet, als ob sie für ihn bete. Mehmed hob verstohlen die Faust. Um seine Beine strich eine Katze. Rosalba.
Auf dem Höhenweg parkten Mannschafts-und Streifenwagen, Polizisten standen herum und rauchten. Sie warfen ihm feindselige Blicke zu, er sah an ihnen vorbei. «Der alte Spinner …», hörte er. «Den hätten wir ausräuchern sollen. Tränengas rein und Feierabend.»
Pippo sah über die Gärten hinweg zur Stadt hinab. Der Himmel war blass, aber offen. Es würde ein schöner Herbsttag werden nach dem ewigen Regen. Das Laub der Bäume in den Gärten und Parks war schon gelb und braun verfärbt. Er müsste noch die Stauden schneiden, fiel ihm ein. Laub rechen. Dahlienknollen ausgraben.
«Steigen Sie ein, Schwyter.» Ein Polizist drückte ihm den Kopf hinunter und schob ihn auf den Rücksitz eines Streifenwagens. Dort sass schon einer, der andere ging um den Wagen herum und zwängte sich dazu. Die Polizistin am Steuer startete den Motor. Im Rückspiegel sah Pippo seinen Sohn winken.
Die Videosequenz war kurz und verschwommen. Ein paar Sekunden nur, doch Hermann erkannte die Stimme sogleich. Tscharners Bündner Mundart. Er war zuerst nicht zu sehen, nur seitlich im Bild standen zwei zerzauste Bartgeier in Lederjacken. Einer mit dicken Fettwülsten im Nacken, der andere hager mit vernarbtem Gesicht.
Tscharners Stimme im Off. «Ich habe nichts zu tun mit der Sache, verstanden?»
«Du sprachst doch von einer Lektion für den Grünen.» Eine Hand rieb den Stiernacken, der Vernarbte grinste blöd.
«Ich kann mich nicht erinnern, verstanden?»
«Alles klar, Chef», sagte der eine. Der andere mit fast weinerlicher Stimme: «Kunz war total besoffen. Wir wollten ihn noch rausziehen. Da war der Typ schon abgetaucht.»
«Ein Unfall also.»
«Ein Unfall. Sagt auch die Polizei.»
«Dann sind wir uns ja einig.»
«Aber …»
«Kein Aber. Macht euch dünn.»
Die Männer traten weg. Für eine Sekunde war Tscharner zu sehen, im Bürosessel zurückgelehnt, Beine übereinander geschlagen, Hände im Nacken verschränkt. Hinter ihm an der Wand ein Gemälde, blaue Berge vor grünen Hügeln, ein rotes Feld mit Schnitterinnen. Giacometti, vermutete Hermann. Von Tscharner wusste man, dass er ein Sammler von Künstlern aus seiner Bündner Heimat war.
Schnitt. Die Sequenz stammte vermutlich aus der Kamera eines Laptops, der seitlich auf Tscharners Bürotisch stand. Jemand, der Zugang zu seinem Netzwerk hatte, hatte sie aufgezeichnet. Ein Hacker oder ein Insider, ein Whistleblower. Damit man ihn nicht identifizieren konnte, gab er die Daten auf dem Stick weiter. Der Rest des Speichers war clean, keine Spur der Quelle. Der Mann, der die Sequenz aufgezeichnet hatte, hoffte, sie würde durch irgendwelche Kanäle an die Öffentlichkeit gelangen. Der Mann, oder die Frau. Eine Frau mit einer komischen Kappe habe den Stick gebracht, hatte Pippos
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