Zores
lief weiter und hatte mittlerweile die Josefstädter Straße erreicht. Er bog nach links und wollte offenbar in Richtung Innenstadt entkommen.
Bronstein, immer noch völlig außer Atem, überlegte, wie er sich in die Verfolgung einschalten konnte, ohne dass ihn dabei der Quiqui holte. Just in diesem Augenblick kam ein Arbeiter des Weges, der ein Fahrrad vor sich herschob. Bronstein fingerte eilig seine Kokarde aus dem Hosensack. „Das ist konfisziert!“, kreischte er und entwand dem verdutzten Mann das Gefährt. Ohne auf dessen Proteste zu hören, schwang sich Bronstein in den Sattel und radelte dem Kollegen hinterher. Er holte schnell auf und bog nur kurz nach Cerny ebenfalls in die Josefstädter Straße ein. Schönbergers Vorsprung betrug vielleicht 50, 60 Meter, und Cerny drohte allmählich zu erlahmen. Sollte der Doppelmörder ihnen nicht entgehen, dann kam es nun auf ihn an, wusste Bronstein und trat nochkräftiger in die Pedale. „Hoits eam!“, schrie er den Passanten zu, die Schönberger entgegenkamen. Der aber erkannte die Gefahr und wechselte, noch ehe die Personengruppe ihn erreicht hatte, die Straßenseite.
Heftiges Bimmeln erscholl mit einem Mal, gefolgt vom Quietschen der Bremsen und dem Fauchen von Rädern, die abrupt zum Stillstand gebracht werden wollten. Ohne dass Schönberger es bemerkt hatte, war von der Zweierlinie eine Straßenbahngarnitur aufgetaucht, die just zu dem Zeitpunkt die Stelle passierte, als Schönberger sich mitten auf der Straße befand. Bronstein, der in der Zwischenzeit bis auf wenige Meter an den Nazi herangekommen war, sah die schreckgeweiteten Augen, den offenen Mund des Tramwayfahrers, der offenbar noch einen Warnruf abgeben wollte, während seine Hand hektisch die Kurbel betätigte. Das riesige Ungetüm pfauchte und bockte und schien förmlich aus den Schienen springen zu wollen, doch noch ehe Bronstein einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte er einen dumpfen Knall, und Schönberger war nicht mehr zu sehen.
Bronstein zog an der Handbremse und trat mit aller Kraft in die Pedalbremse. Das Fahrrad kam zum Stehen, und Bronstein rutschte nach vor, um seine Beine links und rechts auf den Boden stellen zu können. Allmählich verzog sich die Staubwolke, die der Verkehrsunfall verursacht hatte, und Bronstein erkannte nun wieder den Tramwaylenker, der, weiß wie die Wand, in seinem Führerstand lehnte und sich nicht zu bewegen vermochte. Jetzt erst fiel Bronstein auf, dass die Straßenbahn merkwürdig geschmückt war. Anstatt des Wiener Banners wehten links und rechts Hakenkreuzfahnen an der Spitze der Garnitur, und an der Seite meinte Bronstein die Losung „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ zu erkennen. Doch für diese Merkwürdigkeit hatteer in diesem Moment kein Animo. Cerny war keuchend endlich auch bei ihm angekommen, und gemeinsam blickten sie nun nach unten in Richtung des Fängers, wo sie Schönberger vermuteten.
Die Straßenbahn war tatsächlich aus dem Gleis geraten und hatte sich noch eine ganze Weile seitlich nach vor geschoben, sodass die Spitze des Zuges leicht nach links wies. Unter dem hinteren Vorderrad schaute eine blutige Masse hervor, in der Bronstein und Cerny erst auf den zweiten Blick Schönberger erkannten.
„Bist du deppert!“, entfuhr es Cerny.
„Des kann der ned überlebt haben, oder?“, fragte Bronstein mit brüchiger Stimme.
„I glaub ned“, pflichtete ihm Cerny bei, während er langsam auf den Waggon zuging. Mittlerweile hatte auch der Fahrer seinen Platz verlassen und kletterte knieweich aus dem Führerstand. Er reihte sich hinter Cerny ein und lugte angstvoll über dessen Schulter. Bronstein legte das Fahrrad achtlos auf die Straße und schloss zu den beiden auf.
Für einen Augenblick starrten sechs Augen auf den merkwürdig verrenkten Klumpen, als sie plötzlich entsetzt zurückfuhren und hintereinander Deckung suchten. Der Klumpen hatte deutlich hörbar gestöhnt.
„Der lebt echt no!“, war Cerny fassungslos.
„Ja, aber wie lang no“, ergänzte der Tramwayfahrer, der sich endlich wieder gefangen hatte. „Wir müssen die Rettung rufen. Aber gach aa no!“
Bronstein aber starrte nur auf den Führerstand: „Was haben denn Sie da? Das ist ja verboten“, stammelte er endlich und deutete dabei auf die Hakenkreuzfahnen. Der Straßenbahner, sichtlich verwirrt von Bronsteins in dieser Situation höchstmerkwürdigem Kommentar, sah kurz hin und sagte dann: „Ja, wissen S’ das noch nicht, Herr Inspektor? Der Schuschnigg ist
Weitere Kostenlose Bücher