Zores
geschwiegen, als die Sozialdemokraten inhaftiert und etliche von ihnen hingerichtet worden waren. Der würde letztlich auch jetzt schweigen. Hauptsache, er blieb im Amt! Bronstein wusste nicht warum, aber plötzlich fiel ihm der „Fall Strauß“ wieder ein, der vor vier Jahren für Aufsehen gesorgt hatte. Der Strauß war ein halbdebiler Knecht gewesen, der sich an seinem Bauern, der ihn vom Hof gejagt hatte, dadurch rächte, dass erihm den Heustadel abfackelte. Die Tat war eine simple Sachbeschädigung, doch just zu diesem Zeitpunkt hatte Justizminister Schuschnigg die Todesstrafe wieder eingeführt, die nicht nur für Mord, sondern auch für Raub und Brandschatzung galt. Der Knecht wurde gehenkt, weil er einen Holzschuppen angezündet hatte. Selbst der Kardinal hatte sich damals für den Mann verwendet, doch Miklas war hart geblieben. Er räumte dem Strauß gerade zwei Stunden ein, um sich auf seinen Tod vorzubereiten, dann wurde dem Strauß die Schlinge um den Hals gelegt. Während der Mann sein Leben verlor, ging der Herr Bundespräsident dinieren. Eigentlich hätte man damals schon ahnen müssen, wo so etwas enden würde.
„Du bist ja gar so schweigsam! Was bedrückt dich denn? Die politische Lage? Das tät ich nämlich versteh’n!“
Die Raczek hatte nun auch den Tee auf den Tisch gestellt und gegenüber Bronstein Platz genommen.
Bronstein räusperte sich und holte tief Luft: „Johanna, ich erzähl dir jetzt was, das dürfte ich dir wahrscheinlich gar nicht sagen, aber in Zeiten wie diesen ist das wohl auch schon egal. Der Suchy war wirklich ein Perversling, und deshalb hat er seinen Parteifreunden nicht mehr ins Bild gepasst, und sie haben ihn liquidiert. Den Auftrag dazu hat ein Mann gegeben, der vielleicht jetzt grade zum Bundeskanzler ernannt wird. Kannst du dir das vorstellen?“
„Ja“, entgegnete die Raczek knapp, während sie Bronstein Tee einschenkte, „die sind einfach zu allem fähig. Aber tröste dich, der wird das nicht lange sein. … Bundeskanzler, mein’ ich.“
Bronstein sah sie überrascht an: „Du glaubt, der wird gestürzt? Ja, von wem denn? Ist ja niemand mehr da, der sich noch wehren könnt’! Die Arbeiter sind ja nicht einmal mit diesem blutleeren Anwalt fertiggeworden, wie sollen sie da die Nazis …“
Johanna legte die Hand auf Bronsteins Unterarm und sah ihm tief in die Augen: „Ich fürchte, du hast mich missverstanden. Ich meinte natürlich, es kommt noch schlimmer. Daher auch meine Frage vorhin.“
„Noch schlimmer?“ Auf Bronsteins Gesicht malte sich blankes Entsetzen. „Wie kann es denn noch schlimmer kommen?“
„Die Nazis halt’ jetzt nix mehr auf. Die marschieren ein. Egal, ob ihnen hier die Macht gegeben wird oder nicht. Österreich ist Geschichte, David! Ab morgen ist das nur noch eine hintere Provinz des Tausendjährigen Reiches …“
Bronstein schnappte nach Luft. „Aber das ist doch absurd. Eine Kulturnation wie Österreich, die kann doch nicht einfach von der Landkarte verschwinden …“
„Das haben meine Polen auch geglaubt. Und trotzdem wurden sie einfach zwischen Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt, wenn du dich erinnerst.“
„Aber, Johanna, ned bös sein, das ist doch etwas ganz anderes …“
„Wieso sollte das etwas anderes sein? Wir hatten auch eine jahrhundertealte Tradition. In Polen herrschten schon Könige, da gab es hier in Wien nur einen kleinen Landgrafen. Der Wawel in Krakau birgt die Gräber von Herrschern, deren Regierung von Schlesien bis an die finnische Grenze reichte. Ohne unseren Sobieski würde heute über Wien die Fahne mit dem Halbmond wehen. Und trotzdem wurde unser Land nur hundert Jahre nach der Befreiung Wiens einfach zerschlagen. So wird es jetzt auch mit Österreich geschehen.“
Bronstein begann zu schwitzen. So hatte er die Sache noch gar nicht gesehen. Er hatte sich schon genug davor gefürchtet, dass Seyß-Inquart Kanzler und er aus dem Polizeidienst entlassen werden würde. Aber dass Österreich buchstäblich indas Dritte Reich inkorporiert werden könnte, diese Überlegung war ihm bislang nicht gekommen.
Was hieß das überhaupt für ihn? Er würde automatisch zu einem Bürger zweiter Klasse werden, denn dann galten die Nürnberger Gesetze auch für ihn. Bronstein ärgerte sich, diese nicht beizeiten besser studiert zu haben. Er selbst war wie seine Eltern Protestant. Sein Großvater war seinerzeit konvertiert. Aber zählte das überhaupt? Verdammt, er saß ja noch tiefer in der Klemme,
Weitere Kostenlose Bücher