Zorn der Meere
ähnlichen Rang innehatten, kam Francois sich vor wie ein Bettler vor einem hohen Herrn. Er zwang sich, den anderen nicht offen anzustarren, doch es war schwer, den Blick von den gestärkten weißen Hemdrüschen, dem schweren Goldmedaillon und dem ordentlich gestutzten Bart abzuwenden. Welch eine groteske Gestalt ich dagegen abgebe! ging es Francois durch den Sinn.
Meine Haare sind strähnig, mein Bart ist struppig, die Fetzen meiner Kleidung schlottern um meinen stinkenden, dürren Leib, während der zerbeulte Hut des Kommandeurs, den ich so sorgsam gehütet habe, mich vollends lächerlich macht.
»Was um alles in der Welt ist passiert?«, begann Rambruch.
Francois zuckte verlegen die Achseln und schwieg, um sich erst einmal zu sammeln. Unterdessen wanderten seine Blicke über die Bibel, die auf dem Schreibpult lag, über die saubere Leinenwäsche auf dem Bett und die schwere,
messingbeschlagene Truhe aus Eichenholz. Meine Kajüte war prächtiger, ging es ihm unsinnigerweise durch den Kopf. Er hielt den fein geschliffenen Weinkelch hoch, damit Rambruch ihn mit dunklem Burgunder füllen konnte.
Francois setzte zu der Rede an, die er bereits unzählige Male vor sich aufgesagt hatte. Ich habe meine Pflicht getan, wollte er anheben, ich versuchte, die Fracht des Schiffes zu retten, ich habe nie auc h nur für einen Augenblick an meine persönliche Sicherheit gedacht. Doch stattdessen spürte er, dass sich seine Kehle zusammenschnürte. Er stieß plötzlich keuchende Laute
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aus, begann zu zittern, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in heiseres Schluchzen aus.
Auf der Langen Insel
Der Wind fuhr über die Lagune und ließ die Wasserfläche wie gefaltet aussehen. Am Strand stakste eine Möwe mit zerzaustem Gefieder umher und hinterließ im Sand pfeilförmige Spuren.
Etwa zwanzig Schritt entfernt lagerte eine Robbe und begutachtete Wiebe aus feuchten, samtigen Augen.
Das ist also Zeevancks wundervolle Insel, dachte Wiebe, wo sie Wasser aus einer Quelle schöpfen würden, so viel sie wollten.
Einen einzigen trüben, moosbewachsenen Tümpel hatten sie bislang entdeckt.
Wiebe verstand das nicht. Es ergab keinen Sinn.
Er gesellte sich zu seinen Kameraden, die sich am Strand ausgestreckt hatten. Sie waren müde und durstig.
»Dieser verdammte Schreiberling hat hier nie in seinem Leben Wasser gefunden«, murrte einer. »Ich weiß nicht, was das soll.«
»Geht mir ähnlich«, murmelte Wiebe.
»Trau nie einem Kerl, der Tinte an den Fingern hat«, brummte ein anderer und spuckte aus.
»Das solltest du nicht tun«, ermahnte ihn ein Franzose. »Die Spucke wird dir nachher fehlen.«
»Jeronimus verlässt sich auf uns«, überlegte Wiebe laut.
»Wenn wir mit leeren Händen vor ihm stehen, ist er enttäuscht.«
»Der Steinmetz hat die Insel mit Zeevanck erkundet«, ergriff einer das Wort. »Wenn der Federfuchser sich irrt, kann ich das
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verstehen, doch der Steinmetz ist Soldat, der kennt sich aus. Ich begreife das nicht.«
»Es ist und bleibt ein Rätsel«, stimmte Wiebe ihm zu und stutzte dann. Für einen Augenblick fragte er sich, ob Zeevanck und der Steinmetz den Unterkaufmann absichtlich angelogen hatten. Doch was hätten die beiden davon gehabt?
Wiebe spürte eine eigenartige Unruhe in sich aufsteigen. »Am besten entzünden wir unser Feuer«, schlug er vor. »Zeevanck soll kommen und uns holen. Gleichzeitig kann er uns ja zeigen, wo das Wasser ist.«
Danach konnte es Wiebe nicht schnell genug gehen, Äste zusammenzutragen und das Feuer zu schüren, damit das Floß bald auftauchte, und er den Beweis hätte, dass seine Unruhe unbegründet war.
Auf dem Friedhof
Jeronimus beobachtete die dünne Rauchsäule, die sich über der Langen Insel in die Lüfte kräuselte, und lächelte befriedigt.
Da drüben war die Panik schneller ausgebrochen als gedacht. Er begann zu kichern. Ich werde auf die tapferen Männer trinken, sagte er sich, auf die Helden, die ihr Leben für mich opfern.
Es war leicht gewesen, wirklich leicht.
Jetzt ging es nur noch darum zu sehen, wie lange sie es schafften.
Die Fetzen des Verbandes, die der Arzt um Jans Arm gelegt hatte, stanken. Dort, wo der Knochen sich durch die Haut bohrte, hatte die Wunde zu schwären begonnen.
Sussie löste die Fetzen und wusch den Eiter ab. Auf Jans Gesicht blühten Fieberrosen.
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Mit Judiths Hilfe hatte Sussie frische Bandagen organisiert, mit denen sie seinen Arm umwickelte, während Judith die Schweißperlen abtupfte,
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