Zorn der Meere
Gefühl der Verlassenheit, das Lucretia daraufhin überfiel, ließ erstmals die Angst wieder zum Leben erwachen. Zwar hatte sie auf dem Schiff nie ein Wort mit den Frauen gewechselt und dies kaum als Verlust empfunden, doch auf dem Friedhof machten sie ihr das Leben erträglich und lenkten sie von ihren Grübeleien ab.
Beim Betreten ihrer neuen Behausung stockte Lucretia indes der Atem. Ihr Blick fiel auf einen Tisch und ein Bett. Auf dem Bett lag eine kostbare Seidendecke, an deren Kopfende sich dicke, weiche Samtkissen stapelten. Über dem Fußende war ein neues Kleid ausgebreitet, aus königsblauem Samt und mit goldenen Bordüren.
Lucretia trat auf den Tisch zu, auf dem zwei silberne Krüge standen. Einer war mit Wasser gefüllt, der andere mit Wein.
»Gefällt es Euch?«
Lucretia fuhr herum. Im Eingang stand Jeronimus.
»Was soll das bedeuten?«, fragte Lucretia.
»Ich fand, Euch stände eine standesgemäße Unterbringung zu.
Freut Ihr Euch nicht?«
»Warum tut Ihr das?«
»Unter anderem zu Eurem Schutz. Ihr seid zu schön, um vor den Männern sicher zu sein. Gewisse Ereignisse sollten sich nicht wiederholen, finde ich.«
»Ich habe mich bei den Frauen wohl gefühlt«, murmelte Lucretia verunsichert.
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»Ihr wisst nicht, wovon Ihr redet«, winkte Jeronimus ab. »Ich werde fortan für Eure Sicherheit sorgen. Das betrachte ich als meine Pflicht.«
Lucretia schloss die Augen. Sie spürte eine schwielige Hand an ihrer Kehle und die schmutzigen Finger, die sie betastet hatten.
Jeronimus hatte Recht. Wer konnte garantieren, dass derlei nicht ein zweites Mal geschah?
Judith merkte, das jemand sie an der Schulter rüttelte. Sie schlug die Augen auf und erkannte Daniel, ihren kleinen Bruder.
»Hörst du das nicht?«, flüsterte er. »Was ist das?«
Judith lauschte in die Nacht. »Es ist nichts«, wisperte sie zurück. »Leg dich wieder hin.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Da, horch! Da ist es wieder.«
Dieses Mal vernahm auch Judith einen Laut. Er klang wie ein dünner Schrei, den der Wind zu ihnen herüberwehte. Gleich darauf folgten dumpfe Geräusche und dunklere Stimmen, die etwas riefen. Danach wurde es abermals still.
»Na, siehst du!«, beruhigte Judith ihren Bruder. »Das war ein Vogel und der Wind, der gegen die Zeltwände schlug.«
Von draußen ertönten Stiefelschritte. Judith stockte der Atem.
Die Schritte stapften vorbei und verhallten.
»Was ist denn da los?«, flüsterte Daniel.
»Hab keine Angst, mein Kleiner«, sagte Judith beschwichtigend. »Vielleicht geht jemand, der nicht schlafen kann, ein wenig spazieren.«
Daniel schlüpfte unter Judiths Decke und schmiegte sich an sie.
Judith strich ihm beruhigend über den Kopf. Sie wusste, dass die Schreie weder von Vögeln stammten, noch die dumpfen Laute vom Wind herrührten.
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Für lange Zeit starrte Judith in die Dunkelheit und verfolgte mit angehaltenem Atem jedes noch so winzige Geräusch. Doch bis auf das gelegentliche Knistern und Schaben der Taschenkrebse, das Brausen der Brandung und das Rauschen des Windes blieb alles still.
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XIX
Wenn es um das Töten geht, gibt es zweierlei Arten von Menschen: diejenigen, die das Töten lieben, und diejenigen, die es hassen.
Allein wenn die Männer auf Robbenjagd gehen, lassen die Gruppen sich unterscheiden. Die einen tun ihre Pflicht, die anderen sind nicht zu bremsen.
Sofern Sie jemals Zeuge von Kriegen und Schlachten waren, ist Ihnen dieses Phänomen bekannt. Der grobe Kamerad, der wilde Saufkumpan, der wüste Krakeeler und Schläger wird plötzlich still und blass, wenn es ans Töten geht, und weigert sich, Frauen und Kinder zu morden. Andere, die zuvor sanft und unauffällig waren, riechen das Blut und werden zu Schlächtern.
Die Sache, um die es geht, interessiert sie in den seltensten Fällen, aber dennoch metzeln sie los, lassen nicht mit sich reden, sind taub und blind.
Ob ich einen solchen Blutrausch für entschuldbar halte?
Ja und nein.
Meine Güte, Rasereien neigen oftmals dazu, unappetitlich zu werden, das wissen wir doch alle.
Im Übrigen habe ich dazu keine Meinung, denn der Beobachter versucht, nicht zu werten.
Also gut, da Sie mich drängen... nein, ich schätze den Blutrausch nicht. Ich mag nichts, was im Rausch geschieht.
Auf dem Friedhof
Judith hatte sich stets bemüht, eine gute Christin zu sein. Sie wusste, dass Gott nicht allein ihre Taten, sondern auch ihre Gedanken wertete. Bisweilen gelüstete es sie jedoch danach, ihre Gedanken in
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