Zorn der Meere
Treibholz gezimmert hatten, waren von Äxten zersplittert worden. Über den Erdboden zog sich ein verschlungenes Gewirr blutiger Spuren.
Pfarrer Bastians fiel auf die Knie.
Seine Schreie gellten durch die Nacht.
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XXII
Wie rasch wir doch immer dabei sind, über andere zu richten!
Da geschieht eine Missetat, und wir liegen im warmen Bett oder sitzen behaglich am Ofen und denken: Das täte ich nicht, und: Wie kann man nur?
Andererseits wissen Sie, dass die Sonne morgens auf- und abends untergeht, und Sie sind satt. Es gibt keine Katastrophe, die Ihnen die Sicherheit raubt, keine Gefahr, die Ihre Moral entstellt.
Lassen Sie sich jedoch warnen!
Niemand weiß vorher, wie er sich unter extremen Bedingungen verhalten wird. Erst wenn der Albtraum Wirklichkeit ist, wird er es erfahren.
Habe ich jetzt Zweifel in Ihre Brust gesät?
Das tut mir Leid.
Sie müssen aber auch einmal meine Lage verstehen.
Ich nähre mich schließlich vom Zweifel der Menschen.
Auf dem Friedhof
Der scharfe Wind trieb Regenscha uer über die Insel. Am grauen Himmel schrien die Möwen.
Judiths Gesicht war bleich.
Ihr Vater hatte die Bibel aufgeschlagen und hielt die Hochzeitspredigt vor der bunt gekleideten Gesellschaft.
Generalkapitän Jeronimus trug seinen roten Rock mit den goldenen Bordüren. Zur Feier des Tages hatte er gleich mehrere goldene Ketten angelegt. Hinter ihm befanden sich, ebenfalls
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neu eingekleidet, seine Offiziere Zeevanck, Mattys Beer, Allert Janz und der Steinmetz.
Der Bräutigam hatte sich zu seinem schwarzen Rock einen vornehmen Seidenhut aufgesetzt, den ein dicker Federbusch zierte. Die silbernen Schnallen an seinen Stiefeln glänzten.
Der Steinmetz legte einen Rubinring auf die Bibel.
Der Mann hatte braune Ränder unter den Fingernägeln, und Judith schauderte. Er hat es nicht einmal für nötig gehalten, das Blut meiner Familie zu entfernen, dachte sie.
Pfarrer Bastians beendete die Zeremonie mit unsteter Stimme.
Nach dem Gesetz war seine Tochter nun Frau van Huyssen geworden.
Conrad strich sich mit der Zunge über die Lippen und spielte mit den Schnüren von Judiths Mieder.
Judith fand, er sah aus wie ein Mann, der einen seltenen Fisch geangelt hatte und nun nicht weiß, wie er ihn am geschicktesten filetiert.
»Warst du schon einmal mit einem Mann zusammen?«, fragte er.
Wenn man eine Wunde ausbrennt, ging es Judith durch den Kopf, lässt sie sich untersuchen, ohne dass es den Verwundeten schmerzt. Vielleicht galt dieselbe Regel für das Herz. Es musste wohl so sein.
Im Übrigen schien die Regel auch für den Geist zu gelten.
Selbst die einfachste Frage musste sie des Öfteren überdenken, bevor sie sie verstand.
War sie schon einmal mit einem Mann zusammengewesen?
Welche Antwort gab es darauf? In Holland hatte ein Junge sie geküsst. Musste sie davon berichten? Wusste sie noch, wer das gewesen war?
»Du bist sehr schön«, sagte Conrad. »Weißt du das?«
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Er streckte seine Hand aus, um ihre Wange zu berühren.
»Auf dem Schiff sah ich dich häufig in der Gesellschaft dieses Soldaten. Hattest du etwas mit ihm?«
Dieses Soldaten. Welchen Soldaten meinte er? Judith tat ihr Bestes, um sich zu besinnen, doch sie vermochte an nichts außer an das Blut auf dem Erdboden zu denken und daran, wie an einigen Stellen dicke Klumpen entstanden waren.
»Das schmeckt deinem Vater, dich an einen Adligen verheiratet zu haben, nicht wahr? Dadurch ist er ein ordentliches Stück nach oben gekommen.«
»Mein Vater ist ein getreuer Diener des Herrn«, erwiderte Judith.
»Im Gegensatz zu mir.« Conrad lachte. Danach wurde er ernst. »Ich möchte nicht, dass du deine frommen Sprüche mit ins Bett nimmst, Judith.«
Er fuhr mit den Fingern durch ihr Haar.
Judith entfernte sich von ihrem Körper. Wie ein Geist schwebte sie in der Luft. Von dort sah sie, dass sich Conrads Mund bewegte, doch was er sagte, hörte sie nicht. Es war, als stünde er auf der anderen Seite einer Gasse, anstatt neben ihr auf dem Bett zu sitzen.
Conrad erhob sich und füllte einen Becher mit Wein, den er Judith hinhielt. Sie ergriff ihn und trank. Ihre Hände zitterten.
Sie hatte Wein auf ihr Kleid geschüttet.
Conrad nahm ihr den Becher ab und stellte ihn auf den Boden.
»Was hast du denn?«, fragte er. »Du wirkst so beklommen.«
»Hast du gewusst, was er vorhatte?«
»Natürlich nicht.«
»Wir waren in deinem Zelt, während -«
»Ich wusste nichts davon. Wofür hältst du mich? Glaubst du, ich mache bei
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