Zorn der Meere
wiederholte sie im Stillen. Andere quält der Hunger.
»Esst, so viel Ihr wollt!«, flüsterte Conrad ihr ins Ohr. »Wir schenken die Reste nicht den Armen. Was übrig bleibt, werfen wir fort.«
Judith blickte ihn an. Sein Lächeln war unergründlich. Auch als sie in seine Augen schaute, konnte sie nicht erkennen, was sich dahinter verbarg.
Conrad ergriff einen Zinnbecher. »Wein?«, fragte er, indem er bereits einzuschenken begann.
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In diesem Augenblick tauchte Jeronimus auf. Auch er trug einen neuen Rock aus roter Farbe, den eine Goldbordüre zierte.
Auf seiner Brust glänzte die goldene Kette des Kommandeurs.
Conrad verbeugte sich ehrerbietig und begrüßte Jeronimus als Generalkapitän - ein Titel, den Judith noch nie gehört hatte.
Anschließend setzten sie sich zu Tisch. Pelgrom, der Kabinenjunge, briet Fische vor dem Zelt, tat ihnen auf und schenkte nach, sobald sie die Becher geleert hatten.
Heute Nacht müssen wir nicht darben, dachte Judith spöttisch.
Die Bettler sind der Einladung Ihrer königlichen Hoheit gefolgt.
Heute ist der Tag im Jahr, an dem sie sich satt essen dürfen.
Judith beobachtete ihren Vater, der das Fleisch mit den Zähnen von den Vogelleibern riss, schmatzend Krebse in sich schlang und geräuschvoll Austern schlürfte. Dazwischen schnaufte er und nickte stumm, während Jeronimus ihm seine Pläne darlegte, noch mehr Menschen auf die Nachbarinseln zu verteilen, um für ihre eigene Insel die Versorgung mit Nahrung und Wasser sicherzustellen.
»Kluge Worte«, lobte Pfarrer Bastians mit vollem Mund und den Blick unverwandt auf den kleiner werdenden Hügel Vogelleiber gerichtet. »Ich werde zu den Menschen sprechen und ihnen versichern, dass Gottes Gesetz gilt.«
»Seit wann erlässt Gott Gesetze?«, erkundigte sich Jeronimus amüsiert.
Pfarrer Bastians schien blass zu werden. »Schon immer«, murmelte er.
Judith runzelte die Stirn. Früher wäre ihr Vater aufgefahren, hätte sich empört und gewütet, doch nun reagierte er sanft wie ein Lamm.
»Eigentlich sollte mein Vater den Menschen verkünden, dass gottesfürchtige Sitten hier bei uns abgeschafft worden sind«, sagte Judith barsch.
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Jeronimus hob nachsichtig die Brauen. »Warum, findet Ihr, soll der Mensch Gott fürchten? Warum empfängt er ihn nicht in Liebe?«
Pfarrer Bastians lachte gekünstelt. »Wir empfangen seine Liebe«, betonte er. »Gott liebt uns. Wir fürchten ihn. Ihn nicht zu fürchten zöge das Unheil herbei.«
Jeronimus' Lachen hörte sich fröhlich an. »Nun, ganz so ist es nicht«, verbesserte er. »Ich fürchte Gott beispielsweise nicht, und dennoch hat er mich vor allerlei Unheil bewahrt. Er hat mich aus dem Wrack auf diese Insel gerettet, wo er mich mit Speisen, Wein und feiner Kleidung versieht. Er hält seine schützende Hand über mich, während ringsum Menschen sterben. Somit weiß ich, dass ich zu seinen Auserwählten gehöre. Was Euch betrifft, bin ich mir indes nicht sicher, lieber Pfarrer Bastians. Manchmal habe ich nämlich den Eindruck, dass Ihr Euch an jedweden Rockzipfel hängt, nicht "immer nur an den des Herrn.«
Pfarrer Bastians begann, unmerklich zu zittern.
»Sprecht nicht auf diese Weise zu ihm!«, zischte Judith Jeronimus an. »Mein Vater war stets ein treuer Diener des Herrn.«
Jeronimus maß sie mit einem Blick, in dem sich Zorn und Verwunderung mischten. Dann warf er seinen Kopf in den Nacken und lachte schallend auf. »Du liebe Güte, Conrad«, rief er, »da hast du dir aber ein widerspenstiges kleines Fohlen eingehandelt! Vielleicht solltest du dir einen Dolch unter dein Kopfkissen stecken.«
Pfarrer Bastians hatte sich wieder gefasst. Er häufte gebratene Vögel und Krebse auf seinen Teller.
»Na, was sagt Ihr dazu, Judith?«, fuhr Jeronimus heiter fort.
»Wisst Ihr überhaupt schon, dass dieser brave junge Mann Euch zum Weib begehrt?«
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Judith schwieg. Dieser brave junge Mann, dachte sie, kann nichts außer morden und trinken. Er hat in seinem Leben so wenig an Leid erfahren, dass er annimmt, Leid sei ein neuer Sport. Wenn wir nicht auf dem Riff aufgelaufen wären, wäre der brave junge Mann dank seiner Herkunft Unterkaufmann der Gesellschaft geworden, doch nun, da der Teufel ihn lobt und als Freund bezeichnet, fügt er sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit in den Beruf als Mörder.
Ich nehme diesen braven jungen Mann, damit meine Familie überlebt. Ich bin inzwischen ein Pfand geworden.
»Es wird nach dem Gesetz vonstatten gehen«,
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