Zorn der Meere
davon. Wahrscheinlich war sie bis hinunter zum untersten Deck Gegenstand von Klatschgeschichten geworden.
»Wo hast du denn von diesem Gerede erfahren?«, erkundigte Lucretia sich.
»Von David Zeevanck, Madame«, erklärte Andries nun eifrig.
»Ich bat ihn, sich zurückzuhalten, doch er sagte, er wiederhole nur, was sich die Jonkers erzählen.«
Lucretia schloss die Augen.
»Es tut mir Leid, Madame«, hörte sie Andries murmeln. »Ihr dürft mir nicht böse sein. Ich wollte Euch nicht bekümmern. Ich wollte Euch lediglich - warnen.«
»Ich bin dir nicht böse, Andries«, erwiderte Lucretia.
»Vielmehr danke ich dir. Du warst sehr mutig, wirklich.«
Andries sah sie mit untröstlicher Miene an.
»Geh jetzt«, befahl Lucretia freundlich.
Andries tat wie ihm geheißen und verschwand.
Lucretia starrte für eine Weile zu Boden. Als sie den Blick hob, entdeckte sie, dass der Skipper von seiner Brücke aus zu ihr heruntersah. Ob er das ausgeheckt hatte? Er und seine kleine Freundin Zwaantie? Wie um zuzustimmen, lächelte der Kapitän und nickte ihr zu.
Fünfunddreißig Grad und fünfundvierzig Minuten südlicher Breite
dreiundzwanzigster Tag des April im Jahre des Herrn, 1629
Als Lucretia wieder in ihrer Kabine war, holte sie tief Luft und setzte sich auf die Kante ihres Bettes. Mir schwirrt der
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Kopf, stellte sie fest. Ich muss mich besinnen, muss mir meine nächsten Schritte sorgfältig überlegen.
Es dauerte nicht lang, bis Zwaantie die Tür aufstieß und sich grußlos an ihrer kleinen Reisetruhe zu schaffen machte.
Für eine Weile beobachtete Lucretia das Mädchen schweigend.
»Du hast dich mir widersetzt«, sagte sie dann.
Zwaantie hielt kurz mit ihren Verrichtungen inne, entgegnete jedoch nichts.
»Ich hatte dir bereits einmal aufgetragen, dich von Adriaen Jacobs fernzuhalten«, fuhr Lucretia fort. »Doch wie es aussieht, ficht dich das nicht an.«
Zwaantie blieb weiterhin stumm.
»Hast du nichts dazu zu sagen?«, erkundigte Lucretia sich.
Zwaantie schüttelte den Kopf.
»Auch gut«, bemerkte Lucretia. »Dann werde ich mich an Herrn Pelsaert wenden. Er wird deinen Fall dem Marscha ll übergeben.«
So etwas wie Furcht stahl sich in Zwaanties Blick. Sie wusste, dass der Marschall sie für ihr Benehmen auspeitschen lassen konnte, sogar öffentlich am Mast.
»Ich verstehe aber nicht -«, begann sie, doch dann brach sie ab.
»Was verstehst du nicht?«
Zwaantie grinste verschlagen. »Na ja«, hub sie erneut an, »ich bin ja nicht die einzige Frau an Bord, die sich unsittlich benimmt.«
Lucretia erkannte die Schadenfreude in Zwaanties Augen.
Was habe ich ihr nur getan, dass sie mich so hasst? fragte sie sich.
»Möchtest du mir das vielleicht näher erläutern?«
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»Tut doch nicht so scheinheilig!«, sprudelte es aus Zwaantie hervor. »Das ganze Schiff weiß längst Bescheid. Alle Welt redet über Euch und den Kommandeur.«
»Das habe ich inzwischen auch vernommen«, entgegnete Lucretia. »Der Unterschied ist lediglich, dass das Gerede über Herrn Pelsaert und mich niederträchtig und grundlos ist.«
»Grundlos!«, höhnte Zwaantie. »Natürlich! Feine Leute stehen ja über dem Gesetz! Fragt doch einmal die Leute auf den Unterdecks! Die erklären Euch die Gründe.«
»Das reicht!«, versetzte Lucretia. »Ich hatte nicht vor, mit dir zu debattieren. Das, was ich dir sage, ist ein Befehl. Ab sofort kein Wort mehr zu dem Kapitän! Hast du mich verstanden?«
»Ich verstehe Euch besser, als Ihr denkt«, gab Zwaantie zurück, ehe sie auf dem Absatz kehrt machte und aus der Kabine stürzte.
Lucretia starrte ihr nach. Ich habe die Kontrolle über meine Dienstmagd verloren, dachte sie. Ich brauche die Hilfe von Francois.
Jacobs blickte zu dem hohen Mast empor, dessen Spitze in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Er spürte den Druck der Wellen unter sich und konnte den Sturm riechen, der sich irgendwo am Rande des Horizonts zusammenbraute.
Als er Schritte hörte, wandte er sich um. Sein Herz begann heftige r zu schlagen, da er eine Frauengestalt ausmachte, die die Kapuze ihres Umhanges bis tief in die Stirn gezogen hatte. Erst als sich eine rundliche Hand um das Geländer der Reling legte, erkannte der Skipper Zwaantie.
»Was willst du?«, fragte er enttäuscht.
»Ich habe mich mit der dummen Ziege gestritten«, murmelte Zwaantie. »Sie hat mir verboten, dich wieder zu sehen.«
»Seit wann sind ihre Verbote für uns von Belang?«, fragte der Kapitän, noch immer
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