Zorn der Meere
dass er ein Mann von Bildung war, und sie wusste, dass er es in der VOC im Laufe von nur zehn Jahren vom
Kaufmannsgehilfen bis zu seiner derzeitigen Stellung als Flottenpräsident geschafft hatte. Und das, obwohl er noch nicht einmal fünfunddreißig Jahre alt war. Lucretia hatte auch erfahren, dass es sich bei seinem Schwager um Hendrick Brouwer handelte, einen vormaligen Admiral und gegenwärtigen Mitglied der 17 Herren, dem Direktorium der VOC.
Vom anderen Ende der Tafel spürte Lucretia die Blicke des Kapitäns auf sich haften. Sie wandte den Kopf zu ihm um und erntete ein anzügliches Grinsen. Fast unmerklich hob sie die Brauen und dachte bei sich: Er ist wie stets reichlich zudringlich, der Herr Skipper. Die meisten Männer wagten es aus Respekt vor ihrem Rang und Ehestatus nicht, sie offen anzustarren, doch Kapitän Jacobs kannte diese Regel entweder nicht oder er setzte sich einfach darüber hinweg. Ob er tatsächlich annahm, sie interessiere sich für einen Mann, dessen Tischmanieren erbärmlich waren und dessen Konversation sich in der Beschreibung von Meeresströmungen und Windrichtungen erschöpfte?
»Madame«, begann der Kapitän nun, indem er Lucretia erstmals direkt ansprach, »würdet Ihr mir vielleicht ein Rätsel lösen? Könnt Ihr mir sagen, was eine so schöne Frau wie Euch in eine derart finstere Gegend wie Batavia verschlägt?«
Lucretia runzelte die Stirn. »Mein Mann lebt dort«, erwiderte sie knapp.
»Ach ja? Nun, das ist interessant! Und womit beschäftigt sich der Herr Gemahl dort unten?«
»Er handelt mit Edelsteinen.«
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Auf Jacobs' Miene zeigte sich ein Anflug von Spott. »Ich hoffe, das ist nicht alles, was er kann«, sagte er schmunzelnd.
Lucretia warf einen etwas pikierten Blick in die Runde.
»Ihr solltet Euch zurückhalten, Kapitän«, ertönte eisig die Stimme des Kommandeurs.
Jacobs schoss die Hitze in die Wangen, und seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Lucretia blickte zwischen dem Kapitän und dem Kommandeur hin und her. Das nimmt kein gutes Ende, dachte sie. Die beiden können sich offenkundig nicht leiden.
»Ich bitte Euch«, griff sie beschwichtigend ein. »Ich habe keinerlei Anstoß genommen.«
Die beiden Männer starrten sich über die Tafel hinweg weiterhin wortlos an, wie zwei Hunde, die sich umkreisen.
Es war der Unterkaufmann Jeronimus Cornelius, der die Situation rettete. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte, als habe er gerade einen Scherz vernommen. Sein Lächeln war ansteckend, es belebte die Stimmung der Anwesenden umgehend.
»Herr Kommandeur«, hob er gleich darauf an, »warum erzählt Ihr uns nicht ein wenig mehr von den Abenteuern, die Ihr in Indien erlebt habt?« Lucretia schenkte er dabei einen einvernehmlichen Blick, als wolle er sagen: Die Herren sind nur ein wenig gereizt, Überlasst die beiden ruhig mir.
»Ich bin sicher, dass ich alle Anwesenden längst über Gebühr mit meinen Geschichten strapaziert habe«, entgegnete Francois.
»Wie wahr!«, knurrte der Kapitän.
»Ich würde dennoch gern mehr erfahren«, beharrte Jeronimus.
Die anderen nickten eifrig.
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Seitens der Jonkers war das Interesse noch nicht einmal geheuchelt, denn für die meisten unter ihnen war es das erste Mal, dass sie Holland den Rücken kehrten. Infolgedessen gierten sie immerzu nach Berichten über die Reichtümer und Wunder der fernen Länder.
»Hottentotten«, brummte der Kapitän. »Halunken, Lumpenpack!«
»Das finde ich nicht«, widersprach ihm der Kommandeur.
»Vor allem nicht, wenn ich an den Hof von Shah Jahan denke, dessen Pracht alles, was ich kenne, übertrifft. Oder wollt Ihr behaupten, dass es woanders herrlichere Gärten gibt? Auch die Architektur Indiens kann sich meiner Meinung nach durchaus sehen lassen. Nehmt nur die Festungsmauern des Fürsten von Jumna! Habt Ihr den Stein gesehen, aus dem sie geschlagen sind? Wenn die Sonne untergeht, glänzt er blutrot, und bei Sonnenaufgang erglüht er im zartesten Rot der Rose. Man hat sogar verstanden, daraus ein feines Gitterwerk zu gestalten, in dem die Luken mit leuchtendem Blattgold ausgekleidet sind.«
Die anderen in der Tafelrunde hingen mit glänzenden Augen an den Lippen des Kommandeurs, bis auf den Skipper, der sich geräuschvoll seiner Mahlzeit widmete.
»Überdies kultivieren die Inder ihren Sinn für die Zerstreuung«, fuhr der Kommandeur nachdenklich fort, »etwas, das der Holländer in seinem Wesen nicht kennt. Shah Jahan lässt, um sich abzulenken, seine
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