Zorn der Meere
um sich zu bewegen. Nur seine Blicke folgten noch dem Tanz eines schimmernden Wasserbechers, der sich vor seinen Augen auf den Wellen drehte.
Neben Wiebe ließ Mattys Beer seinen Urin in einen Becher tröpfeln und führte ihn dann mit zittrigen Händen zum Mund.
An seiner Kehle sah man die Schluckbewegungen, doch dann spie er die Flüssigkeit aus und schleuderte den Becher fort.
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Würgend und hustend ließ er sich auf den Erdboden sinken und blieb dort zuckend liegen, wie ein gestrandeter Fisch.
Der bullige Steinmetz war auf dem Strand
zusammengebrochen. Ab und zu stemmte er sich noch ein wenig hoch und versuchte, auf die Wellen zuzukriechen. Wiebe erkannte schemenhaft, dass jemand ihm Einhalt gebot.
Es gibt so viele Arten des Sterbens, fuhr es Wiebe durch den Sinn. Man konnte ertrinken, verdursten, am Fieber eingehen, erfrieren, am Rad mit gebrochenen Gliedmaßen enden und in der Schlacht einer Kugel erliegen. Doch einerlei, wie man aus dem Leben schied, ein Sinn lag nie darin, ganz gleich, was die Kirchenmänner behaupteten.
Am besten nimmt man es, wie es kommt, dachte Wiebe. Eine Wahl hat der Mensch ohnehin nicht. Warum sich also dagegen wehren?
Lucretia hatte sich bis unter eine Segelbahn geschleppt, ehe die Kraft sie verließ. Nun lag sie ausgestreckt da, unfähig sich zu rühren. Hie und da, wenn ein Strandkrebs sich raschelnd zwischen den Korallenschalen versteckte oder die Schatten der Seevögel über ihr Gesicht glitten, lief ein Schauer über ihre Glieder. Dann dachte sie flüchtig an jene anderen Geräusche und Schatten auf dem langen Gang der Batavia. Für einen Moment entsann sie sich daraufhin des Grauens, bäumte sich ein wenig auf und glaubte, fauligen Atem zu riechen, so als fielen Leichen über sie her.
»Madame van der Mylen«, hörte Lucretia eine Stimme sagen.
Die Stimme klang freundlich und führte sie zurück nach Amsterdam. Gewiss handelte es sich um eine Dienerin in ihrem Haus an der Heerengracht, die sie am Morgen sanft aus dem Schlummer weckte.
»Madame van der Mylen«, wiederholte die Stimme. »Ich habe Euch etwas zu trinken gebracht.«
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Lucretia spürte Tropfen auf ihren Lippen und öffnete den Mund. Sie trank den winzigen Schluck Wasser, den man ihr in einer Schöpfkelle reichte, und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. Lucretia runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern, wer er war.
»Ich bin es, Andries«, erklärte der junge Mann.
Der Name sagte Lucretia nichts. Sie schmatzte mit den Lippen, beschwor den Geschmack des Wassers neu herauf. Der junge Mann bettete ihren Kopf fürsorglich auf die Erde zurück.
Lucretia versank wieder in ihrem Alptraum, in dem sie sich seltsam lebloser Hände erwehrte. Andries aber kroch zum Strand, um sich einen Platz zum Sterben zu suchen.
Fünfundzwanzig Grad und sechsunddreißig Minuten südlicher Breite
Gott muss sich vorgenommen haben, meinen Lebensmut zu vernichten, dachte Francois. Er will mich nicht einfach nur strafen, sondern er unternimmt regelrecht einen Kreuzzug gegen mich.
Über die dünne Mondsichel rasten dunkle Wolken. Die Flut hatte eingesetzt. Von Nordwesten fegten Sturmböen über das Meer, die schwere Brecher über das Langboot peitschten und seine Insassen unter sich begruben.
Der Skipper hatte die Segel einholen und den Bug auf das offene Meer richten lassen. Trotz des heulenden Sturms stand er hochaufgerichtet da, trieb die Männer an und brüllte ihnen zu, sich ins Zeug zu legen.
Francois war einmal schwankend aufgestanden, um Jacobs zuzurufen, das sei der helle Wahnsinn, sie müssten andersherum steuern, die sichere Insel aufsuchen und nicht das uferlose Meer.
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Als Erwiderung hatte der Kapitän geschrien, wenn er mit der Brandung gegen die Klippen geschleudert werden wolle, sei ihm das recht, er möge in dem Fall einfach nur springen.
Francois ließ sich kleinlaut auf seinen Sitz zurückfallen. Jedes Mal, wenn eine Welle über ihn geschwappt war, holte er keuchend Luft. Er sah, dass sich das Boot bedrohlich mit Wasser füllte, und nach einer Weile begann er, den Matrosen zu helfen, es mit Bechern und Näpfen aufzuschöpfen. Wen interessiert noch, ob mein Rang dergleichen erlaubt? fragte er sich stumpf. Alles ist vorüber, die Regeln gelten nicht mehr.
Es war ein Sturm, wie Francois ihn noch nie erlebt hatte. Die See und der Himmel hatten sich verbündet und waren zu einem einzigen Feind geworden, der ringsum tobte und ihnen mit undurchdringlicher Schwärze die Sicht
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