Zorn der Meere
die zahllosen Ungeheuer aus, die wie schwarze Nachtvögel durch seine Träume flatterten.
Auf dem Friedhof
Tryntgen hatte sich auf einen der Felsen zurückgezogen und den Kopf in den Armen geborgen. Zu ihren Füßen gurgelte und schäumte die Brandung. Über ihr zogen Möwenschwärme unruhige Kreise und warfen flirrende Schattenbilder auf die Wellen.
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Sussie näherte sich Tryntgen. Behutsam legte sie ihr eine Hand auf die Schulter.
»Tryntgen«, sagte Sussie leise.
Sie sah, dass Tryntgens Körper von Schluchzern geschüttelt wurde, doch sie wusste, dass ihrer Schwester kein Trostwort helfen würde.
Gewisse Dinge sollte man von Männern erwarten können, fand Sussie. Zum Beispiel blieben gute Männer ihren Frauen treu, wenngleich ihre Schwester erklärt hatte, es sei besser, sich nicht darauf zu verlassen, sondern sich darauf einzustellen, verzeihen zu müssen. Das Mindeste, dachte Sussie, war jedoch, dass einen der Ehemann ausreichend liebte, um einem in Notzeiten beizustehen. Oder musste man etwa hinnehmen, dass er sich heimlich davonstahl, um seine Haut zu retten, und seine Frau auf einem gottverlassenen Stück Erde dem Tod überließ?
Die Untreue, deren Claas sich schuldig gemacht hatte, war nach Sussies Meinung schlimmer als Ehebruch. Sie fand nicht einmal ein Wort, um sie zu benennen. Wenigstens wird Tryntgen nicht lange "hadern müssen, sagte sich Sussie, doch ihre letzten Gedanken würden vermutlich bitter sein.
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XIV
An dieser Stelle ließe sich spekulieren, welche Art von Leben Claas noch beschieden ist - sofern er Java jemals erreicht. Ein langes Leben wird er nicht mehr vor sich haben. Damit ist bei einem Mann seines Standes grundsätzlich nicht zu rechnen. Er hat sich lediglich ein wenig zusätzliche Zeit gestohlen. Was glauben Sie? Ob sie ihn süß ankommt?
Mir gefällt es, wenn ein Mann Gewissensbisse hat. Alle anderen sind uninteressant. Solche Menschen ziehen gewöhnlich nur stumpfsinnig ihrer Wege. Mir liegen eher diejenigen am Herzen, die gut sind, dann jedoch straucheln.
Wenn Sie möchten, denken Sie sich Claasens zukünftige Geschichte aus. Vergessen Sie dabei jedoch nicht, dass er das Ausmaß seiner Missetat begreift und dass sie ihn für immer quälen wird. Malen Sie sich sein Ende ruhig in der Hölle aus, denn dort wird er landen, so viel kann ich Ihnen jetzt schon verraten.
Auf dem Friedhof
Bereits seit einer geraumen Weile klang Judith ein Scharren und Kratzen in den Ohren. Als sie sich umblickte, sah sie Füße aus einem Wasserfass ragen und begriff, woher die Geräusche stammten. Ein Mann war in das Fass gekrochen und versuchte den letzten Rest Feuchtigkeit zusammenzuschaben.
Die Sonne, die bisweilen durch den grauen Himmel brach, verströmte ein milchig gleißendes Licht, das Judiths Augen tränen ließ. Ihre Kehle hingegen war ausgedörrt und fühlte sich ledrig an. Schon seit Stunden vermochte Judith nicht mehr zu sprechen.
Am Ufer wälzte sich ein kleiner Junge wimmernd in den auslaufenden Fluten. Er hatte Meerwasser getrunken. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er starb. Niemand besaß die Kraft,
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sich zu ihm zu schleppen, um zu helfen, niemanden berührte noch, was mit dem Kind geschah.
Judith blickte zu ihrem Vater hinüber. Er konnte sich längst nicht mehr auf den Knien halten, sondern lag bäuchlings auf dem Erdboden und röchelte Gebete vor sich hin. Einer ihrer kleinen Brüder schluchzte. Judith wunderte sich über seine Energie.
Im seichten Meerwasser trieb der stinkende, unförmige Leichnam eines Mannes. Er hatte vergeblich versucht, von der Batavia aus zu ihnen zu schwimmen. Der hat es wenigstens hinter sich, hatte Judiths Mutter gesagt.
Stechende Schmerzen bohrten sich in Judiths Schläfen und breiteten sich über ihre Schädeldecke aus. Sie schloss die Augen und legte sich zurück. Der Wunsch zu sterben stahl sich wie ein Dieb in ihre Seele. Sie wehrte ihn nicht ab. Sein Besuch war ihr willkommen.
Die leeren Wasserfässer ragten wie Zeichen des Hohns vor ihnen auf. Es gab keinen Grund mehr, sie zu bewachen.
Stattdessen hatten die Soldaten aus Überresten von Segelleinwand und angespülten Planken behelfsmäßige Zelte errichtet. Anfänglich bauten sie diese noch nach Vorschrift auf und stellten sie in Reih und Glied, doch in dem Maße, in dem ihre Kraft schwand, verließ sie auch ihr Sinn für Ordnung und Disziplin.
Wiebe lag mit aufgesprungenen, blutenden Lippen unter einem aufgespannten Stück Segeltuch. Er war zu schwach,
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