Zorn: Thriller (German Edition)
sein Einfallsreichtum, die sich zuvor lediglich angedeutet hatten – gegenüber seinen Schwestern, dem rumänischen Segler, den neuen Klassenkameraden in Paris –, erreichen mit der Eifersuchtstat gegenüber Anaïs Criton eine neue Dimension. W tritt mit einer neuen Selbstsicherheit in Bezug auf seine Fähigkeiten ins Teenageralter ein. Er distanziert sich immer mehr vom Vater, umgibt sich mit »suspekten« Freunden, entzieht sich seiner geliebten Mutter und bleibt seinem eigenen Geburtstagsfest fern. Und er beschafft sich die Substanz Protobiamid, die uns bislang noch unbekannt ist.
In diesem Zustand der Wandlung wird W also von einem Mann namens Massicotte aufgesucht. Seine Mutter Maria möchte mit ihm darüber reden, doch sie weiß, dass dies ein sehr sensibles Thema ist, woran sie selbst auch Schuld trägt. Als das Gespräch schließlich zustande kommt, wühlt es sie dementsprechend auf, wie sie es erwartet hat, auch wenn W lediglich »Du hast es gewusst« sagt. Doch gegen Ende des Gesprächs gibt es immerhin »Anzeichen der Versöhnung«, unter anderem bietet er ihr ein Glas Wasser an. Es ist fraglich, ob dies spontan geschieht oder ob er es im Voraus geplant hat, was für Maria Berner-Marenzi jedoch keinen Unterschied macht. Sie trinkt das mit Protobiamid versetzte Wasser und verfällt in einen Krankheitszustand mit paranoiden Symptomen, der schließlich zu ihrem Tod führt.
Ws Abwesenheit bei der Beerdigung legt nahe, dass er zu diesem Zeitpunkt – fünfzehnjährig und mit kriminellen Verbindungen – bereits untergetaucht ist. Höchstwahrscheinlich hat ihm der damals neunzehnjährige Betrüger und Fälscher Jacques Rigaudeau nach dem Muttermord zu einer neuen Identität verholfen.
Ebenfalls bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass Rigaudeaus Verschwinden vor fünf Jahren der ersten Tat in einer Serie, mit der sich unser Auftrag aktuell befasst, um wenige Monate vorgreift. Zu diesem Zeitpunkt schien W sich entschieden zu haben; er bereitet die Tat vor, indem er alle Spuren seines früheren Lebens beseitigt und »Le Chameau« in Paris verschwinden lässt. Es gelingt ihm allerdings nicht, an die Tagebücher heranzukommen, die auf unergründlichen Wegen in Australien gelandet sind, wo wir sie später ausfindig machen konnten. Dank der Tagebücher haben wir den Weg für weitere Nachforschungen bereiten können, die wie folgt lauten:
Intensive Untersuchung der kriminellen Verbindungen Jacques Rigaudeaus im November 1994, um die erste gefälschte Identität von W zu ermitteln. Wohin kann ein Fünfzehnjähriger mit einer falschen Identität verschwinden?
Einholen ausführlicher Informationen über die Substanz Protobiamid, um mögliche weitere kriminelle Verbindungen von W aufzudecken. Hatte er beispielsweise Kontakt zu einem Chemiker?
Das Ziel der oben genannten Schritte besteht selbstverständlich darin, W ausfindig zu machen und seine Aktivitäten aufzudecken. Vorherige Instruktionen, eine Eliminierung möglichst zu umgehen, werden gemäß den aktuellen Anweisungen des Auftraggebers als hinfällig betrachtet. Wir arbeiten aktuell an der entgegengesetzten Prämisse.
Des Weiteren stellt sich folgerichtig die Frage nach der Rolle von Professor Udo Massicotte, der dem Auftraggeber wohlbekannt ist. Wir erwarten weitere Instruktionen.
La Mortola
Capraia, 14. Mai
Die Dunkelheit senkt sich hinter der Tüllgardine herab, die schon seit Langem aufgehört hat zu tanzen. Als sie sich über die rosafarbenen Abendwolken legt, ist sie eine Naturgewalt.
Es scheint, als wäre diese Gewalt seit Dedas Tagen noch immer gegenwärtig und schwebte über der Inselgruppe. Eine Zeitwolke, die auf ihre Wiedergutmachung wartet.
Die wird Deda nun zuteilwerden.
Wiedergutmachung.
Die innere Stimme fragt: »Wer sendet mir diesen Gedanken? Weil nur die Toten frei von hier wegkommen, so will ich den Platz des Toten einnehmen.«
Es klingt wie eine auswendig gelernte Formel.
Die Stille ist absolut. Fünf Tage intensiver Planung sind überstanden. Die Dunkelheit dringt in das kleine Hotelzimmer und erfüllt es. Der Schmerz schwebt wie ein Raubvogel über einer Landschaft in der Abenddämmerung.
Es wird Zeit.
Endlich ist es so weit.
Ein Gegenstand nach dem anderen wird in exakter Reihenfolge von dem kleinen Schreibtisch genommen und ins Etui gelegt. Hinein in die Tasche, dann die Tasche über die Schulter gehängt. Hinaus in den Frühsommerabend.
Ganz so dunkel, wie es von drinnen aussah, ist es gar nicht. Das ist es selten. Aber der
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