Zorn: Thriller (German Edition)
versuchte, sich als etwas anderes auszugeben.
Er war schlicht und einfach verdammt neugierig.
Also ließ er die Szene noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen, ganz langsam: Der Missmut seiner Frau legt sich. Er steht auf, um an die Bar zu gehen und eine weitere Runde zu bestellen. Es ist nicht weit bis zur Theke, aber im Lokal ist es eng. Kurz vor dem Tresen erblickt er links eine kleine Gruppe, die ihm im Weg steht und an der er vorbeimuss. Gewiss wirft er auch einen Blick in ihre Richtung? Gewiss kann er, obwohl sein Fokus nach vorn auf die Theke gerichtet ist, ein Bild festhalten, es vorsichtig aus der dunkelsten Ecke seiner Erinnerung heben und ihre Gesichter erkennen? Das müsste doch funktionieren, oder? Die Zeit danach hilft ihm nicht weiter, denn da bekommt er lediglich das verwirrte Gespräch der Säufer mit, hört die dunkle Stimme des hoffnungslosen Lasse Dahlis im Wechsel mit der hellen und der Stakkatostimme – die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Da sieht er die Gruppe nicht mehr. Seine einzige Chance liegt auf dem Weg zur Theke. Die wenigen Schritte, der kleine Bogen nach rechts, um die Gruppe zu umrunden. Dort hält er inne. Betrachtet sie. Was sehe ich? Ich habe sie als klein in Erinnerung – schätze ich sie bereits so ein, bevor ich die Riesen rechter Hand um den Waffenhändler herum erblicke, dessen Name ich nie lernen werde? Vielleicht nicht, vielleicht ist es die Größe der anderen, die sie klein erscheinen lässt. Wie schwer es doch ist, sich einen bestimmten Moment aus der Vergangenheit zu vergegenwärtigen und diesen Augenblick einzufrieren. Um ihn in seiner dreidimensionalen Starre betrachten zu können. Es ist nahezu unmöglich. Die Gesichter? Nein, keine Chance. Oder doch?
»Habt ihr ein Foto von Taisir Karir?«, fragte er schließlich.
Chavez hatte es bereits auf den Tisch gelegt und schob es zu ihm rüber. Norlander betrachtete es. Verbrechervisage. Wo stand er? Konnte er dieses Gesicht irgendwo in der eingefrorenen Szenerie platzieren, durch die sein inneres Ich umherwanderte?
»Eins achtundsechzig groß«, erklärte Chavez. »Schwarze Lederjacke.«
Schwarz? Norlander konzentrierte sich. Er versuchte sich zu erinnern. Aber es gelang ihm nicht. Alle Gesichter lagen im Dunkeln, waren ununterscheidbar.
Dann sah er eine Frisur. Aber das war alles.
Norlander schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte er. »Alles, was ich sehe, ist eine Frisur. Eine Art Rockabillyfrisur. Darüber hinaus kann mein Gehirn nichts ausmachen.«
»Schade«, meinte Chavez und nahm das Foto wieder an sich. »Aber bleib dran. In der Zwischenzeit müssen wir uns eben ein paar Verbrecherfotos mit Rockabillyfrisuren angucken.«
»Könnt ihr mir denn nicht sagen, worum es genau geht?«
»Wir wissen es nicht«, antwortete Kerstin Holm. »Aber ein führender Experte auf dem Gebiet der Identifizierung von Terroristen nach chiroplastischen Eingriffen hat sich in Belgien auf sonderbare Art und Weise das Leben genommen. Und jetzt wird ein mysteriöser Waffenhändler ermordet, der verdächtigt wird, gerade eine große Waffenlieferung abzuwickeln. An Terroristen. Das Ganze kann natürlich auch purer Zufall sein. Wahrscheinlich ist es sogar Zufall.«
»Aber ...?«, fragte Viggo Norlander.
»Korrekt«, bemerkte Chavez. »Wir überlassen die Dinge ungern dem Zufall.«
2 – Leichte Brise
Zweiter Bericht
Bezeichnung:
Bericht CJH-28401-B452
Auftragsnummer:
A-100318
Ziel:
Aktualisierung, Einholen von Einschätzungen
Datum im laufenden Jahr:
31. März
Level:
The Utmost Degree of Secrecy
Die zweite Phase der Nachforschungen setzt gegen Ende von Ws Zeit in Paris ein, in der sein Adoptivvater Luigi Berner-Marenzi italienischer Kulturattaché in Frankreich war. Nach dem Vorfall mit dem Slip der Haushälterin Anaïs Criton besuchte W weiterhin die International School of Paris, um zwei Halbjahre später an die École Massillon, eine der katholischen Eliteschulen der Stadt, zu wechseln. Zu diesem Zeitpunkt ist er vierzehn Jahre alt. Seine Noten sind hervorragend, und das Leben im exklusiven 16. Arrondissement in Paris scheint ohne Probleme zu verlaufen. Das Tagebuch seiner Adoptivmutter Maria Berner-Marenzi ist während dieser Jahre in einem sorglosen Ton gehalten und erwähnt die Adoptivtöchter Una und Vera bedeutend öfter als W.
Tatsächlich gibt es zwei Personen, die sie nur äußerst selten nennt: W und sich selbst. Über sich und den Sohn zu schreiben scheint ihr Schwierigkeiten zu bereiten, denn sie
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