Zorn: Thriller (German Edition)
Pferdespritze. Sie hat sich durch das Jackett des Mannes gebohrt und sitzt dort wie festgenagelt.
Die letzten Atemzüge des Mannes. Vereinzelt und röchelnd. Er atmet Blut aus. Das Erstaunen steht ihm immer noch ins Gesicht geschrieben.
Dann plötzlich im Hintergrund erneut eine Bewegung, in der Dunkelheit der Zelle. Die Last des schweren Mannes macht es unmöglich, sich zu bewegen.
Dann plötzlich leise Schritte. Ein Blick über die Schulter des Mannes, der seinen kurzen Todeskampf ausficht. Etwas huscht durch den blauen Lichtkegel. Ein Gesicht.
Ein Mensch. Die Blicke heften sich aufeinander.
Es ist ein sehr merkwürdiger Moment. Und er dehnt sich unendlich.
Der Mann an der Tür, im bläulichen Lichtschein, sein strahlend hübsches Gesicht. Der intensive fesselnde Blick. Erstaunen, Skepsis, aber auch Zielstrebigkeit.
Ein Etui in der Hand des Mannes, wie das eigene, nur kleiner. In genau der richtigen Größe für eine Pferdespritze.
Er kommt ein paar Schritte näher. Verhängnisvolle Schritte. Der schwere Mann liegt obenauf, keine Chance, sich zu bewegen. Der attraktive Mann geht in die Hocke. Mit intensivem Blick. Forschend. Dann schüttelt er den Kopf und ist verschwunden.
Die Stille danach ist geradezu betäubend.
Das Messer noch ein wenig drehen. Man muss Geduld haben, mit dem Herausziehen zu warten, bis der Kampf vorüber ist. Um so lange wie möglich das Blut zurückzuhalten.
Abwarten.
Sich schließlich unter dem Mann hervorwinden und befreien. Den geräderten Körper strecken. Nachspüren, wie sich der Rücken anfühlt. Es scheint nichts gebrochen zu sein. Der Schmerz strahlt zwar vom Rückgrat her aus, aber die Beweglichkeit ist unbeeinträchtigt.
Auf die Türöffnung zu. Den Blick unter der halbierten Tür, die festgerostet in ihrer Angel hängt, ins Dunkel hinausgerichtet. Die Dunkelheit vor dem Gebäude ist kompakt. Massiv. Erdrückend. Viel gegenwärtiger als auf irgendeiner anderen Insel.
Extra starke Schwerkraft. Nichts deutet darauf hin, dass hier noch jemand gewesen ist.
Bis auf eines.
Wäre da nicht die Pferdespritze, die noch immer aus der Schulter des schweren Mannes herausragt, hätte alles auch Einbildung sein können, und der attraktive Mann mit dem intensiven Blick hätte überhaupt nicht existiert.
Außer irgendwo im tiefsten Inneren.
Es ist sinnlos, das jetzt verstehen zu wollen.
Carpe diem . Nutze den Tag. Wie immer.
Ist das jetzt noch möglich? Ist nicht alles zerstört?
Nein, es ist möglich. Es ist immer noch möglich.
Ruhe stellt sich ein. Stille. Die Kühle nach der Hitze. Die Ruhe nach dem Sturm. Und Erleichterung.
Die goldenen Sekunden, in denen alles geordnet erscheint. In denen für einen Augenblick Gerechtigkeit geschaffen wurde. Gerechtigkeit für Deda.
Dann wird es Zeit.
Die Pferdespritze muss verschwinden. Weil das Jackett und das Hemd verschwinden müssen.
Beim Herausziehen der Spitze zeigt sich, dass die Kanüle extrem lang und stabil ist, offenbar dafür geschaffen, auch die dickste Kleidung zu durchdringen. Früher oder später muss das Ganze noch einmal durchdacht werden. Aber nicht jetzt. Die Spritze landet in einem Außenfach der Tasche.
Die Kanüle nicht berühren. Nicht in die Nähe der Nadelspitze kommen.
Im Hauptfach der Tasche liegt das Etui. Es ähnelt dem des attraktiven Mannes sehr, auch wenn es etwas größer ist.
Die Zähne ein paarmal ordentlich zusammenbeißen. Spüren, wie sich Speichel bildet.
Zu Werke schreiten.
In Bewegung
Den Haag – Capraia, 15. Mai
Corine Bouhaddi sah sich in ihrer Wohnung um und fragte sich, warum sie sich so unwohl fühlte. Plötzlich hatte sie den Eindruck, dass die Wände eine gewisse Einsamkeit abstrahlten. Im Flur sah sie in den Spiegel und erblickte eine groß gewachsene athletische Berberfrau mit nahezu schwarzer Haut. Der Gesichtsausdruck flößte ihr Angst ein. Das endgültig Verlassene, das darin lag.
Schließlich war sie es gewöhnt, allein zu sein, sie wohnte bewusst allein, reiste allein, lebte ganz nach der Devise »Allein ist man stark«. Doch momentan kam es ihr nicht so vor, und sie fragte sich, warum.
Einmal hatte sie mitbekommen, wie der offenherzige Schwede Jorge Chavez sie als »Frau mit einer Integrität« bezeichnete, »die alles biologische Leben innerhalb des Umkreises von einer halben Meile ausradiert«. Die Erinnerung daran belebte sie ein wenig. Ihr Spiegelbild lachte auf. Also musste sie ebenfalls gelacht haben.
Ihr Blick schweifte weiter über den zusammengerollten
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