Zorn: Thriller (German Edition)
Kleinen, der wie immer an seinem Computer saß. Ich weiß nicht, wie ich diesen Blick beschreiben soll.
Ich trotzte seinem Bannkreis, betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Er sagte nur einen einzigen Satz, und zwar in einem Tonfall, der mich auch jetzt noch, mehrere Stunden später, zittern lässt. Er lautete: ›Du hast es gewusst.‹
Das war alles.
Wird er je wieder Vertrauen zu mir haben? Gegen Ende des Gesprächs gab es gewisse Anzeichen der Versöhnung, auch wenn ich immer stärker zitterte. Er hat mir Wasser zu trinken gegeben. Er hat gesehen, wie aufgewühlt ich war.
Es ist wahrscheinlich die Aufregung, die sich in meinem Körper jetzt ausbreitet, während ich schreibe, denn es geht mir wirklich nicht gut. Ich leide unter Schweißausbrüchen, und es kommt mir so vor, als wäre die gesamte Wohnung voller Gestalten, die mir Böses wollen. Alles wird diffus.
Das Einzige, was im Augenblick immer deutlicher wird, während sich alles andere verdunkelt, ist der Name. Der Name des Mannes, der meinen Kleinen besucht hat. Er hieß Massicotte.«
Hier müssen wir feststellen, dass das Tagebuch abrupt endet. Maria schreibt niemals wieder etwas in ihr Tagebuch.
Aus Mangel an anderen Quellen sahen wir uns im November 1994 zu umfangreichen Ermittlungen in Paris gezwungen. Während dieser Zeit wird Maria Berner-Marenzi in keinem offiziellen Register erwähnt. Eine waghalsige Aktion in der italienischen Botschaft in Paris, die wir nicht weiter darstellen wollen, erbrachte eine Anzahl inoffizieller Dokumente, von denen eines belegt, dass Kulturattaché Luigi Berner-Marenzi Ende November desselben Jahres eine Privatklinik in der Rue da la Chaise aufgesucht hatte. Weitere Informationen waren jedoch nicht zugänglich. Die Beschaffung geheimhaltungspflichtiger Dokumente aus der Klinik bedurfte außergewöhnlicher Maßnahmen. Aber schließlich konnten wir Maria dort als Patientin mit »ernsten paranoiden Symptomen«, die zu spät als physisch statt psychisch bedingt erkannt wurden, ausfindig machten. Es stellte sich heraus, dass sie mit einer Substanz vergiftet worden war, die unter der Bezeichnung Protobiamid patentiert ist. Doch das zeigte sich erst bei der Obduktion. Sie starb Ende November, ohne ihr psychisches Gleichgewicht wiedererlangt zu haben.
Die Tatsache, dass sich die Familie während der Beerdigung in das Gästebuch von Notre-Dame als »Luigi, Una und Vera Berner-Marenzi« einschrieb, muss natürlich nicht bedeuten, dass W zu diesem Zeitpunkt den gemeinsamen Haushalt bereits verlassen hatte, doch es wäre eine plausible Erklärung. Dafür spricht obendrein, dass der Auftraggeber W zu diesem Zeitpunkt ebenfalls aus dem Blick verlor.
Langsam nähern wir uns nun dem aktuellen Stand der Ermittlungen. Wenn wir so vermeintlich belanglose Formulierungen wie »er ist so beliebt, mein Kleiner, und bekommt viel Besuch« aufgreifen, liegt es nahe, an eine frühere Passage anzuknüpfen, die nicht in unmittelbarem Bezug zu W steht, aber im Nachhinein betrachtet dennoch mit der Sache zu tun haben könnte. Die Passage stammt aus der Zeit unmittelbar vor dem »Besuch des Mannes« und lautet wie folgt:
»Inzwischen halten sich so viele suspekte Leute in der Wohnung auf. Ich kann nicht gerade behaupten, dass mir all diese ›Freunde‹ gefallen, aber ich verheimliche Luigi ihre Besuche, weil ich weiß, dass er sonst außer sich sein würde. Aber dieser ›Le Chameau‹, der manchmal ganz plötzlich in irgendeiner dunklen Ecke der Wohnung auftaucht, beunruhigt mich ein wenig. Sein Lächeln ist abscheulich.«
Anfänglich haben wir keine Verbindung zwischen diesem »Le Chameau« und W herstellen können, doch im Nachhinein erscheint sie uns logisch, nicht zuletzt weil es uns gelungen ist, im Strafregister auf einen jungen Betrüger und Fälscher mit Namen Jacques Rigaudeau aus dem Vorort Clichy-sous-Bois zu stoßen. Ein Mann mit diversen Beinamen, unter anderem »Le Chameau«, »das Kamel«, ein Spitzname, den er dem Polizeiregister zufolge »während seiner Kindheit aufgrund eines Rückenschadens durch einen doppelten Buckel erhalten hatte, welcher durch erstklassige medizinische Behandlung immer stärker behoben werden konnte«. Jacques Rigaudeau verschwand selbst im Übrigen vor fünf Jahren. Aber darauf kommen wir noch zu sprechen.
Es ist offensichtlich, dass W nach seiner sonderbaren, aber keineswegs unbegreiflichen Aktion gegen die Haushälterin Anaïs Criton eine Wandlung durchmacht. Seine verbale Rücksichtslosigkeit und
Weitere Kostenlose Bücher