Zorn: Thriller (German Edition)
berichtet fast ausschließlich von ihrem Ehemann Luigi oder von Una und Vera.
Aus ihren Aufzeichnungen geht dennoch hervor, dass W nach wie vor die volle Unterstützung und Liebe seiner Mutter erfährt, während die Beziehung zu seinem Vater offenbar immer komplizierter wird.
Das Quellenmaterial über die Pubertätsjahre in Paris ist unerwartet dürftig. In der Zeit zwischen Mittel- und Oberstufe hinterlässt man in der Regel – auch in den frühen Neunzigerjahren – eine große Anzahl von Spuren. Doch dies ist bei W nicht der Fall. Wir vermuten, dass er in dieser späteren und kritischen Phase seines bisherigen Lebens zielgerichtet alle Spuren hinter sich verwischt hat.
Was hat es damit auf sich, dass sowohl Maria selbst als auch W in den Tagebüchern kaum mehr vorkommen? Bedeutet es, dass Maria den Eindruck hat, ihn nach und nach zu verlieren, und zwar nicht nur in den gewöhnlichen Albtraumszenarien der Pubertät, sondern in einem lebensentscheidenderen Zusammenhang? Was spielt sich in diesen kritischen Jahren zwischen Mutter und Sohn ab? Eine Passage kann als vielsagend betrachtet werden.
Wir haben in Marias Tagebuch jede Geburtstagsfeier bis hin zu Ws dreizehntem Geburtstag verfolgen können. Zu dem (in diesem Fall künstlich festgelegten) Datum von Ws vierzehntem Geburtstag fehlt jedoch ein Eintrag. Der Tag wird ohne Erwähnung übergangen. An Ws fünfzehntem Geburtstag findet sich hingegen folgender Eintrag:
»Mein Kleiner ist wirklich groß geworden. Heute feiern wir seinen fünfzehnten Geburtstag. Er ist in der Schule so fleißig, und er entwickelt sich zu einem sehr stilvollen jungen Herrn. Seit dem Besuch des Mannes ist er zwar recht launisch, aber heute Morgen, als er mit Geschenken und Liebesbezeigungen seiner Familie überhäuft wurde, überstrahlte sein wunderbares Lächeln die ansonsten eher missmutige Miene, und er machte sich frohen Muts auf den Weg zur Schule. Sein Lächeln wurde sogar noch etwas breiter, als seine Lieblingsschwester Vera ihn liebevoll umarmte. Er wusste, dass wir am Abend im Restaurant du Palais Royal ausgiebig feiern wollten. Luigi hatte sogar ein Essen im Louvre mit mehreren europäischen Außenministern abgesagt. Luigi, Una, Vera und ich versammelten uns also im Restaurant und warteten auf unseren Kleinen. Es wurde neunzehn Uhr, dann zehn nach, zwanzig nach, doch der Kleine kam nicht. Luigi wahrte vor Una und Vera die Fassade erstaunlich gut. Wir hatten unseren Kleinen mit einem hochmodernen Handy ausgestattet, und Luigi hatte sein Diensthandy von der Botschaft dabei. Ich bat ihn, es mir zu leihen. Darin fand sich etwas, eine kurze Mitteilung. Es war das erste Mal, dass ich eine SMS sah. Sie war auf Französisch geschrieben und lautete kurz und bündig: ›Ich habe heute Abend etwas anderes vor.‹ Luigi war rasend vor Wut und machte im traditionsreichen Restaurant du Palais Royal eine große Szene. Die Welt erbebte regelrecht.«
Danach wird es eigenartig still um W, es dauert gut einen Monat, bis er wieder erwähnt wird:
»Der Herbst in Paris ist so unwirtlich. Leider scheint mein Kleiner ebenfalls Stürme zu durchleben, allerdings noch weitaus schlimmere. Das liegt nicht nur an Luigis distanzierter Haltung dem Jungen gegenüber, sondern auch an einem weiter zurückliegenden Ereignis. Damals hatte ich es nicht gleich begriffen – er ist so beliebt, mein Kleiner, und bekommt viel Besuch –, aber im Nachhinein stelle ich fest, dass der Besuch des Mannes ihn verändert hat. Ich versuche gerade, mich an dessen Namen zu erinnern, doch er ist mir entfallen. Es erscheint mir wichtig herauszufinden, wer er eigentlich war. Und natürlich auch, was er gesagt hat. Ich weiß nicht, ob ich es wagen soll, das Thema meinem Kleinen gegenüber anzusprechen. Aber ich habe den Eindruck, dass ich es tun muss.«
Danach gibt es nur noch eine Aufzeichnung in den Tagebüchern, in der W vorkommt. Es ist die letzte. Die allerletzte in der gesamten Tagebuchserie, was angesichts der vielen noch verbleibenden Seiten in diesem fünften Band erstaunt. Diese Seiten sind jedoch leer.
Die betreffende Aufzeichnung stammt vom November des schicksalsträchtigen Jahres 1994:
»Wie mir davor graute. Schließlich habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und angeklopft. Keine Reaktion. Ich verschränkte meine Hände. Ich wusste, dass das, was nun folgen würde, entscheidend für, tja, für den Fortbestand der Familie wäre.
Ich drückte behutsam den Türgriff hinunter und begegnete dem Blick meines
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