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Zorn: Thriller (German Edition)

Zorn: Thriller (German Edition)

Titel: Zorn: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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kleine Ort Paese liegt vollkommen verlassen da. Entlang des sich windenden Serpentinenweges, der mühsam von den Gefangenen der »Colonia Penale Agricola« errichtet wurde, erstrecken sich fruchtbare Terrassenfelder die Hügel hinauf.
    Die Tasche müsste eigentlich schwer sein, doch sie fühlt sich keineswegs so an. Deutlich zu spüren sind hingegen die bleischweren Atemzüge. Dedas Atemzüge in der Höhle.
    Die kalte Nacht bricht herein. Deda zieht Großmutters warme Kleidung fester um sich, bewegt unablässig seine Zehen in den warmen Stiefeln. Mit Einbruch der Dämmerung wird die kreisrunde Öffnung über ihm unscharf, bis die eisige Nacht die Kanten verschluckt. Jeden Augenblick kann jemand zu ihm in die Höhle hinunterschauen.
    Es sind Dedas Atemzüge, die durch die in der Dämmerung liegende Landschaft von Capraia hallen, während der Serpentinenweg eine starke Biegung macht und den Blick über das Ligurische Meer freigibt, wo Korsika gerade von der Nacht verschluckt wurde. Die Facetten der Dunkelheit lassen das Meer wie siedenden Teer erscheinen, darüber weht nur eine leichte Brise. Zudem ist es eigentümlich still. Bleiern, erstaunlich erdrückend, als herrsche hier eine ungewöhnlich starke Schwerkraft.
    Der Ruf Capraias als leidgeprüfte Insel ist nicht verbreitet. Aber das Gefühl der Schwere war schon zuvor, auf der anderen Insel, zu spüren. Das gesammelte Elend der Gefangenen wirkt wie eine Art Gravitation, ein Druck, der den Besucher regelrecht zu Boden presst. So viel Leid auf einer kleinen Fläche muss einfach nachwirken, den Menschen zu Boden drücken.
    Wie auch auf Dedas Insel.
    Während der restlichen Wegstrecke senkt sich die Dämmerung endgültig herab. Der Lichtkegel der Taschenlampe auf dem immer schmaler werdenden Serpentinenweg fängt die ruckartigen Bewegungen der Tiere in der Dunkelheit ein. Kröten, große Spinnen und sogar eine Schlange, die sich träge über den Boden schlängelt, von niemandem bedroht.
    Die verfallene Steintreppe, die sich kaum von dem Weg unterscheidet, führt nun hinauf in endlose ausgedörrte Natur. Der Lichtkegel hält inne und hebt und senkt sich im Takt mit Dedas Atemzügen, die sich schließlich beruhigen, und erst als alles wieder still ist und nicht einmal mehr die Zikaden zirpen, folgt das Licht der Treppe weiter hinauf bis zu einem verwahrlosten Mauerwerk.
    Der Druck erhöht sich weiter, die Schwerkraft wird noch stärker. Der Steinkoloss, des Gefängnisgebäudes war, ist in der Dunkelheit nur als Silhouette zu erkennen. Der erdige Sand unter den Füßen und die sonnengetrockneten Grasbüschel scheinen sich im Licht der Taschenlampe zu bewegen. Sterne blitzen durch eine immer dichtere Wolkendecke.
    Genau wie auf dem Satellitenfoto zu sehen war, erhebt sich im Gefängnishof eine frei stehende Steintreppe. Sich dort hinzusetzen wie verabredet, wie eine von der Taschenlampe erhellte Zielscheibe – früher hätte es Mutes bedurft, um dies zu tun, doch inzwischen nicht mehr. Die Macht der Gewohnheit. Wie es dem Menschen doch immer wieder gelingt, nahezu alles zur Normalität werden zu lassen.
    In Dedas Höhle ist es Nacht.
    Die letzte Nacht. Jedes Mal die letzte Nacht.
    Ein Projekt, das auf viele Jahre angelegt war, geht allmählich zu Ende. Was geschieht dann? Was geschieht, wenn die Waagschale voll ist? Noch nicht so weit gedacht, noch nicht vermocht, so weit zu denken.
    »Wer sendet mir diesen Gedanken? Weil nur die Toten frei von hier wegkommen, so will ich den Platz des Toten einnehmen.«
    Die Fassade des Gefängnisses ist so karg. Die Zeit verrinnt langsamer als je zuvor. Die lang gestreckte Silhouette des Gebäudes ist bereits nahezu vollständig von der Dunkelheit verschluckt worden, auch der erhöhte Kubus mit den beiden ausgestreckten Armen verschwindet langsam, und über die Reihen eingeschossiger Gefängniszellen legt sich allmählich die Nacht.
    Der gelbliche Schein der Taschenlampe spielt um die Füße herum. Der Duft des Mittelmeeres liegt in der Luft, die leichte Brise bringt ihn mit sich. Der nächtliche Mittelmeerduft. Unverwechselbar.
    Dann erscheint das Licht. Das andere Licht. Ein bläuliches Blinken. Wie von einem entfernten Leuchtfeuer durch dichten Nebel hindurch.
    Allerdings kommt es aus dem Gefängnisgebäude.
    Ein tiefer Atemzug in der Nacht. Dedas Atemzug. Der erhöhte Druck erschwert das Aufstehen. Stillstand, während der Lichtkegel wieder erlischt.
    Dann erneutes Blinken aus der Zelle heraus. Das zuvor verabredete Signal.

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