Zorn: Thriller (German Edition)
mal gesagt?«, rief Hjelm aus.
»Europa«, antwortete Navarro. »Die meisten berüchtigten Gefängnisinseln liegen nämlich nicht in Europa. Sondern beispielsweise in ... Brasilien.«
»Jetzt rede endlich Klartext«, forderte Hjelm ihn auf.
»Ihr erinnert euch vielleicht an Udo Massicottes Karriere als Arzt für plastische Chirurgie«, begann Navarro und klickte weiter. »Dass er diesen entscheidenden Schritt aus Europa heraus machte und in Brasilien und Thailand Zentren aufbaute, wodurch sich im Laufe der Zeit ein regelrechter Tourismus für plastische Chirurgie entwickelt hat. Medizinischer Tourismus. In diesem Zusammenhang wurde Massicotte in eine Reihe krimineller Machenschaften verwickelt, oftmals allerdings nur indirekt. Und unter anderem sind wir dabei auch auf ... Kannibalismus gestoßen. Heureka! Massicotte wurde bei einem Gerichtsverfahren in Rio de Janeiro als Erkennungszeuge geladen. Damals war ein alter Freund von ihm aus seiner Studienzeit in Turin auf Ilha Grande, einer Insel hundertfünfzig Kilometer südlich von Rio, ermordet aufgefunden worden. Das Gefängnis schloss 1994. Das Opfer wurde im Februar 2003 in einer ausgedienten Gefängniszelle entdeckt.«
»Todesursache?«
»Messerstich ins Herz. Sowie ein posthumer Biss in den rechten Oberarm.«
»Kein Gift?«
»Unklar, ob überhaupt eine toxikologische Untersuchung durchgeführt wurde«, antwortete Navarro. »Auch kein Hinweis auf einen Zettel mit einem literarischen Zitat.«
»Die Sache muss natürlich nicht unbedingt etwas mit unseren Fällen zu tun haben«, sagte Hjelm. »Aber sie klingt verdammt vielversprechend. Felipe, kontaktiere die brasilianische Polizei und versuche Ermittler von damals ausfindig zu machen. Angelos, leite eine größere globale Suche in die Wege. Ich kontaktiere Interpol wegen der Zusammenhänge. Und ihr anderen: Bereitet euch auf Fernreisen vor. Übrigens, einwandfreie Arbeit, Felipe.«
»Thailand hat doch auch eine ehemalige Gefängnisinsel«, sagte Marek Kowalewski. »Dort haben sie Survivor gedreht. Ich melde mich freiwillig.«
Die Gruppenmitglieder rollten zurück an ihre Plätze. Allerdings mit einer Ausnahme. Corine Bouhaddi rollte auf Felipe Navarros Platz zu.
»Super Job«, sagte sie und legte die Hand auf seine Schulter. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete Navarro und begegnete ihrem Blick. »Ich bin erstaunlich okay. Hoffentlich fange ich nicht irgendwann an, Drogen zu verteidigen.«
»Das nächste Mal werde ich dich filmen«, meinte Bouhaddi. »Ich verspreche dir, das wird das Risiko mindern.«
Sie lachten kurz.
Bouhaddi löste seine Krawatte, band sie neu und rückte sie zurecht. »Habt ihr die Schlüssel gefunden?«, flüsterte sie.
Navarro lächelte, nickte kurz und fragte dann: »Und du? Bist du okay?«
»Ja, langsam, aber sicher wieder. Ich beginne, meine Einsamkeit zu akzeptieren.«
»Meine Füße haben die ganze Nacht auf der Küchenlampe geschlafen«, sagte Navarro.
Erneut lachten sie.
Dann wurden sie wieder ernst, und Corine Bouhaddi fragte: »Was wissen wir über das brasilianische Opfer?«
»Nur das, was in der Massicotte-Akte steht. Udo Massicotte und das Mordopfer wohnten um 1970 herum auf demselben Studentenwohnheimsflur in Turin. Vor vierzig Jahren. Das Opfer hieß Giorgio Sansotta und studierte Politikwissenschaften und Soziologie. Er emigrierte noch in den Siebzigerjahren nach Brasilien und war bis zu seinem Tod Professor für Soziologie an der Universidade de São Paulo.«
»Also noch ein Professor ...«
»Aber diesmal für Soziologie«, wandte Navarro ein. »Daneben haben wir den ermordeten Naturwissenschaftler Roman Vacek und Udo Massicotte. Aber Massicotte wurde vielleicht gar nicht ermordet. Außerdem hat er nichts mit den anderen zu tun. Sie sind alle drei Opfer auf drei Gefängnisinseln geworden, ein Professor, ein Journalist und ein Politiker. Was verbindet sie?«
»Hat Massicotte wirklich nichts mit den anderen zu tun gehabt? Denn er kannte diesen Sansotta ja offenbar.«
»Ja, vor fast einem halben Jahrhundert. Seitdem haben sie aber offenbar nichts mehr miteinander zu tun gehabt. Massicotte ist wahrscheinlich nur bei dem Gerichtsprozess in Rio geladen worden, weil er in der Nähe war. Seine Zeugenaussage steht in der Akte. Er sagte nicht gerade viel. Ich zitiere: ›Wir waren Ende der Sechzigerjahre, Anfang der Siebziger in Turin gute Freunde. Beide ambitioniert, wenn auch auf unterschiedlichen Gebieten und mit unterschiedlicher politischer Grundhaltung,
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