Zorn: Thriller (German Edition)
schauten genau gleichzeitig von ihren Computern auf. Beyer fühlte sich an ein Erdmännchenpaar auf einem kleinen Hügel erinnert.
»Tja«, antwortete Balodis. »Vor allen Dingen ist die KSCˇM die einzige der staatstragenden kommunistischen Parteien im ehemaligen Ostblock, die den Begriff ›kommunistisch‹ im Namen behalten hat. Allein das besagt schon einiges.«
»Vor vier Jahren«, fuhr Hershey nahezu übergangslos fort, »wurde die Jugendorganisation der Partei vom tschechischen Innenministerium verboten, weil sie in ihrem politischen Programm forderte, dass jeglicher private Besitz kollektiviert werden sollte.«
»Es handelt sich also um eine streng kommunistische Partei«, erklärte Balodis.
»Václav Havel war davon überzeugt, dass sie Stalinisten sind«, sagte Hershey, »und hielt sie während seiner Präsidentschaft von jeglicher politischen Einflussnahme fern.«
»Und Roman Vacek selbst?«, fragte Beyer.
»Hat eine Menge Eingaben ähnlichen Inhalts im Europaparlament gemacht«, antwortete Balodis. »Er war unter anderem der Meinung, dass Gewalt aus politischen Beweggründen mitunter notwendig sei. Sozusagen als, Zitat, ›Wiedergutmachung‹.«
»So ungefähr dachte auch der junge Edmond Dantès im Grafen von Monte Christo «, warf Arto Söderstedt ein. »Auch wenn der wohl nicht unmittelbar politisch war. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an die Geschichte.«
»Ich habe plötzlich das Gefühl, dass ich etwas entdecken sollte«, sagte Corine Bouhaddi. »Dass genau ich in diesem Moment etwas erkennen sollte.«
Die übrigen Anwesenden betrachteten sie eine Weile, nicht ohne Erstaunen.
Schließlich fragte Beyer: »Das Außergewöhnliche an Roman Vacek ist wohl seine Flucht ...«
Hershey und Balodis nickten gleichzeitig wie Erdmännchen. Und Hershey sagte: »Er war studierter Mediziner, einunddreißig Jahre alt und hatte eine vielversprechende Forscherkarriere im Fachbereich Genetik vor sich, als er im Frühjahr 1975 in den Westen flüchtete. Er lebte im Exil in den USA und wurde amerikanischer Staatsbürger, ohne jedoch seine tschechische Staatsbürgerschaft abzulegen. Dann war er siebzehn Jahre lang an der Johns Hopkins University in Baltimore tätig, seit den frühen Achtzigerjahren als Professor.«
»Für Genetik«, fügte Navarro an, den ein Schauder durchfuhr. Man warf ihm einen ebensolchen kollektiven Blick zu wie den, mit dem Bouhaddi zuvor bedacht worden war.
Jutta Beyer meinte: »In den Jahren von seiner Flucht bis zu seiner Rückkehr musste er also einen radikalen politischen Wandel durchgemacht haben.«
»Denkst du an Spionage?«, fragte Söderstedt. »Als Doppelagent? Dass seine Flucht 1975 in Liverpool vielleicht nur vorgetäuscht war? Und der Ostblock Vacek dazu benutzte, sich über die genetische Forschung an der Johns Hopkins University auf dem Laufenden zu halten?«
»Oder andersherum«, meinte Beyer enthusiastisch. »Dass die Amerikaner Vacek dazu benutzten, die letzte größere kommunistische Partei im Auge zu behalten.«
»Hat er sich denn irgendwann einmal öffentlich über sein Leben geäußert?«, fragte Söderstedt. »Er scheint der perfekte Kandidat für eine große Reportage zu sein.«
»Wir haben uns diese Recherchen geschwisterlich aufgeteilt«, erklärte Miriam Hershey.
»Das erstaunt mich nicht im Geringsten«, bemerkte Corine Bouhaddi.
Was ihr erneut einen Blick der versammelten Mannschaft eintrug.
»In den USA ist in den frühen Achtzigerjahren eine Reportage erschienen«, sagte Hershey dann. »Es handelt sich um eine Art Huldigung der USA als mustergültiger Schmelztiegel. Der Artikel sagt zwar nicht viel über Vaceks Vergangenheit aus, aber eines bemerkt er doch, ich zitiere: ›Die Forschungselite arbeitet in den USA. Ich sah mich gezwungen zu emigrieren, um in meinem Fachgebiet weiterzukommen.‹ Mit anderen Worten, er klingt wie der klassische unpolitische Forscher.«
»Zum Vergleich habe ich hier einen Heimkehrerartikel aus der größten Tageszeitung Tschechiens, der Dnes , was so viel wie ›Heute‹ bedeutet«, sagte Balodis. »Ich kann leider nur Russisch und kein Tschechisch, kann mir aber den Text einigermaßen erschließen. Darin wird der frischgebackene Europaparlamentarier in einer Heimreportage präsentiert. Er wohnt gemeinsam mit seiner amerikanischen Ehefrau in luxuriösen Verhältnissen in der Innenstadt von Prag. Das Paar spricht unverhohlen über seine ›offene Ehe‹ und sieht dies als eine ausgezeichnete Lösung an, um
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