Zorn - Tod und Regen
knackte leise, und die alte Standuhr, die Zorn vor drei Jahren von seinem Großvater geerbt hatte, tickte wie immer im Flur. Das waren Geräusche, die er sehr gut kannte, und so wusste er, obwohl er die Augen geschlossen hatte, dass er zu Hause in seinem Bett liegen musste.
Er hatte allerdings nicht die geringste Ahnung, wie er hierhergekommen war. Und er hatte das Gefühl, dass irgend etwas anders war als sonst.
Vorsichtig drehte Zorn den Kopf hin und her, eine Bewegung, die umgehend mit einem stechenden Schmerz quittiert wurde. Er fühlte sich wie ein ausgetrockneter Schwamm, als wäre sämtliche Flüssigkeit aus seinem Körper verdunstet, und so lag er denn da, immer noch benebelt, und wusste nicht, was er tun sollte.
Ich muss trinken, dachte Zorn. Wenn ich auch nur noch eine Minute liegen bleibe, verdurste ich. Dazu muss ich aufstehen, und dann platzt mein Kopf wie eine reife Melone. Egal, was ich tue, ich werde das nicht überleben.
Er musste dringend pinkeln, sehr dringend, und der Gedanke, dass er womöglich irgendwann in seinem eigenen, stinkenden Urin liegen würde, gab den Ausschlag. Behutsam öffnete er die Augen, schloss sie allerdings sofort wieder, denn erneut explodierte der Schmerz zwischen seinen Schläfen.
So begann er vorsichtig, die Beine seitlich aus dem Bett zu bewegen. Als seine Füße den Boden berührten, hob er sehr, sehr langsam erst den Kopf und dann den Oberkörper. Schließlich saß er im Bett, nahm allen Mut zusammen und stand auf. Sofort wurde ihm schwindlig, er sackte zurück, Übelkeit stieg auf, und wieder hämmerte sein Schädel, als hätte sich das schlechteste Blasorchester der Welt zu seiner ersten Probe versammelt.
In seiner Not ließ Zorn sich auf alle viere nieder und kroch mit fest zugekniffenen Augen in Richtung Bad, als er hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen glaubte.
Er blinzelte.
Direkt vor ihm lag ein zerknittertes, hellgrünes Trägerkleid auf dem Boden.
Lass es nicht wahr sein, lieber Gott, dachte er und kroch weiter. Ich rühre in meinem ganzen Leben keinen Alkohol mehr an, aber lass bitte
das
nicht wahr sein.
»Guten Morgen, Claudius.«
Schlimmer noch als der Umstand, dass er splitternackt vor einem wildfremden Menschen auf dem Fußboden herumkroch, war die Tatsache, dass die Frau seinen Vornamen kannte. Vorsichtig drehte er den Kopf in ihre Richtung.
In seinem Bett saß die brünette Sekretärin von Staatsanwalt Sauer und lächelte ihn munter an. Sie war ebenfalls nackt, wie Zorn entsetzt feststellte.
»Du siehst aus, als könntest du ein Aspirin vertragen.« Sie begann, in ihrer Handtasche zu wühlen. »Magst du eins?«
Du könntest mich bewusstlos schlagen, dachte er, das wär mir lieber.
Ächzend setzte er sich auf, sie ging um das Bett herum und hockte sich neben ihn. Zorn konnte sich einen kurzen Blick auf ihren gut trainierten Körper nicht verkneifen. Dann drehte er den Kopf ein wenig und versuchte, nicht in ihre Richtung zu atmen.
»Das muss dir nicht peinlich sein«, sagte sie und strich ihm übers Haar. »Ich habe schon Schlimmeres gesehen als einen betrunkenen Ermittler.«
Zorn überlegte fieberhaft, wie sie hieß.
Kalkbrenner? Kohlmann?
Wie sind wir hierhergekommen?, wollte er sagen, doch die Frage verpuffte in einem Krächzen.
»Der Barkeeper wollte schon die Polizei rufen«, erklärte sie. »Ich hab mir gedacht, dass es ziemlich peinlich geworden wär, wenn die Kollegen dich mit aufs Revier genommen hätten. Da hab ich dich ins Taxi gesteckt. Immerhin konntest du noch sagen, wo du wohnst. Du warst völlig hinüber, aber irgendwie …«, sie lachte leise, »… süß. Und hilflos.«
Oder Kohlbrenner?
»Du hast mir die schärfste Nacht meines Lebens versprochen. Du hast gesagt, du wärst ein Gott im Bett. Nein –«, sie lachte wieder, legte den Kopf ein wenig schief und überlegte. »Nicht Gott. Stier. Stier hast du gesagt, du wärst ein wilder, heißblütiger, spanischer Stier.«
Ich möchte sterben, dachte Zorn. Es ist so wahnsinnig peinlich.
»Immerhin hast du nicht ins Taxi gekotzt.«
Er versuchte, ebenfalls zu lächeln, brachte jedoch nur ein schiefes Grinsen zustande. »Haben wir …?«
»Nein, haben wir nicht«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange, »obwohl ich nichts dagegen gehabt hätte.«
Sie hatte ein tiefes, angenehmes Lachen.
Es hätte schlimmer kommen können, sie scheint nett zu sein, überlegte Zorn und wollte aufstehen. Sofort sank er wieder in sich zusammen. Es war, als würde eine Bombe
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