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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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sah seine eigenen, verschwommenen Umrisse und die große, hagere Gestalt Mahlers, der immer noch völlig nüchtern zu sein schien. Eine der beiden Frauen verabschiedete sich und ging, die andere blieb und sah zu ihnen hinüber. Zorn kannte sie, doch bewusst wurde ihm das nicht. Dazu war er viel zu betrunken. Und zu kurzsichtig.
    In der Stereoanlage nahm die Band Anlauf.
»Sunday, bloody sunday!«
, krachte der Refrain durch den halbleeren Raum.
    Zorn sang sehr laut und sehr falsch mit. Er stand auf, verlor das Gleichgewicht, machte einen unsicheren Schritt zur Seite und fasste Mahler an der Jacke. »Blut, Blut, Blut«, nuschelte er. »Überall Blut! Blut, Henning! Barmann!«, brüllte er dann und schlug auf den Tresen, »mach uns zwei verdammte Bloody Marys!«
    Der Schläfer zu Zorns Linken hob fragend den Kopf, sah sich kurz um und sackte zurück auf den Tresen. Der Barkeeper gähnte.
    »Bloody Mary ist alle.«
    »Wir sollten gehen«, sagte Mahler.
    »Noch nicht.« Zorn packte Mahler erneut am Ärmel. Er schielte jetzt ein wenig. »Blut, verstehst du? Da hatte ich jahrelang so gut wie nichts zu tun, und jetzt gibt es gleich zwei Fälle innerhalb einer einzigen Woche. Am Montag«, er hob den Daumen und begann, an seinen Fingern abzuzählen, »finden wir in der Kantstraße eine Blutlache, und kurz darauf schneidet sich deine Frau die Pulsadern auf.«
    »Was war in der Kantstraße?«, fragte Mahler und sah Zorn an.
    »Eine Frau. Ermordet. Haben sie heute gefunden.« Zorn blickte auf die Uhr. Er hielt sie sich dicht vor die Augen, um etwas erkennen zu können. »Nein, gestern«, verbesserte er sich.
    »Was ist passiert?«
    »Wahrscheinlich …«, Zorn hielt inne, rülpste laut und sagte dann zum dritten Mal: »Das ist geheim, laufende Ermittlungen, darf ich nicht drüber reden. Aber trotzdem: Zwei Menschen verbluten innerhalb einer Woche. Ist das nicht komisch?«
    »Nein«, sagte Mahler. »Das ist es nicht.«.
    »Du hast recht. Oh, ich glaub, ich hab noch nie so viel auf einmal geredet.« Zorn fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Scheiße, ich bin total besoffen.«
    »Sunday, bloody sunday!«
Es plärrte ein letztes Mal, dann kam die Band mit einem breiten A-Moll-Akkord zum Schluss.
    »Was für eine beschissene Musik.« Zorn nippte an seinem Schnaps, knallte das Glas auf den Tresen und knurrte: »Der schmeckt auch scheiße.«
    »Gibt es eigentlich irgendwas in deinem Leben, das du gut findest?«, fragte Mahler.
    »Ja«, sagte Zorn und dachte an das Mädchen aus dem Fahrstuhl. »Aber das geht niemanden was an.«
    Aus dem Hintergrund war die Frau herangetreten und hielt ihnen eine brennende Zigarette entgegen. »Habt ihr vielleicht Feuer?« Sie war betrunken, längst nicht so sehr wie Zorn, aber sie hatte ebenfalls Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Sie trug ein hellgrünes Kleid mit dünnen Trägern, wandte Zorn den Rücken zu und stand jetzt direkt vor Mahler.
    »Ich rauche nicht«, erwiderte der.
    »Aber ich!«, lallte Zorn und suchte vergeblich nach seinem Feuerzeug. »Ich rauche immer! Sogar im Büro!«
    Die Frau schenkte Zorn keine Beachtung. »Du siehst sehr traurig aus«, sagte sie zu Mahler.
    »Kein Wunder.« Mahler lächelte ein wenig. »Ich bin der unglücklichste Mensch der Welt.«
    »Und du?«, fragte sie Zorn über die Schulter.
    »Ich bin betrunken.«
    »Ich sollte jetzt wirklich gehen«, sagte Mahler und stand auf. »Ich danke dir, Claudius.«
    »Wofür?«
    »Ich werde jetzt vielleicht ein wenig schlafen können.« Er nahm seinen Mantel, ging zur Tür und drehte sich noch einmal um: »Wenn ich Glück hab.« Dann war er verschwunden.
    »Toi toi toi«, meinte Zorn.
    »Wir schließen jetzt«, sagte der Barkeeper.
    Die Frau trat dicht an Zorn heran und streichelte ihm sacht über die Wange. Eine kurze, geübte Bewegung, und der rechte Träger ihres Kleides rutschte von der Schulter.
    Im grellen Licht sah man deutlich, dass sie zu viel Make-up aufgetragen hatte.
    »Ich kenne dich«, lallte Zorn. »Ich kenne dich gut! Du bist doch …«
    Sie legte ihm die Finger auf die Lippen.
    »Was hältst du eigentlich von Intimrasur?«, flüsterte sie heiser.
    »Ich hasse Friseure«, sagte Zorn und stand auf. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er stöhnte, machte eine halbe Drehung um die eigene Achse und ging auf den kalten Steinfliesen unsanft zu Boden.
    *
    Zorn erwachte vom Jaulen des Windes und vom Regen, der klang, als würden Millionen kleiner Stahlkugeln gegen das Fenster peitschen. Die Heizung

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