Zorn - Tod und Regen
bin ich eigentlich? Zweiundvierzig, und ich komme mir vor wie ein Drittklässler in der Kinderdisco. Ich muss jetzt was Witziges sagen. Oder was Geistreiches. Aber was? Ich könnte mich für den Spiegel bedanken, den sie mir geschenkt hat.
»Scheißregen«, murmelte er stattdessen.
»Ja«, erwiderte sie, »es ist so …«
»… nass.«
Gratuliere, dachte er. Geistreich
und
witzig.
Ächzend kam der Fahrstuhl zum Stehen. Sie stieß sich mit den Händen von der Wand ab und ging in den Flur. Dort drehte sie sich noch einmal um.
»Ich bin übrigens Malina«, sagte sie, kam einen Schritt zurück und streckte ihm durch die Tür die Hand entgegen. Sie war warm und trocken. So standen sie einen Moment da. Dann legte sie den Kopf ein wenig schief und lächelte.
»Und du?«
»Ich? Ich muss in die vierzehnte.« Er zeigte mit dem Kinn in Richtung Decke.
»Ich meinte, wer du bist.«
»Zorn. Ich bin Zorn.«
Sie überlegte.
»Hast du auch einen Vornamen, Zorn?«
»Claudius.«
»Also, Claudius Zorn, nett, dich kennenzulernen. Tschüs.«
Wieder bemerkte er, wie unglaublich hell ihre Augen waren. Er konnte sich nicht für eine Farbe entscheiden. Grün? Oder eher grau?
»Machs gut«, sagte er.
Blau, überlegte Zorn. Sie sind eindeutig blau. Extrem blau. Und extrem schön.
»Würdest du meine Hand loslassen, Claudius Zorn?«
»Entschuldige.« Verwirrt gab er sie frei und trat einen Schritt zurück. Sie winkte ihm kurz zu und war um die Ecke verschwunden. Dort, wo sie gestanden hatte, war jetzt eine kleine Pfütze.
Ich habe nur Schwachsinn erzählt, dachte er und setzte den Fahrstuhl wieder in Bewegung. Und ich habe mich nicht mal bedankt. Oh ja, sie muss denken, ich wär ein absoluter Vollidiot. Wenn ich in meiner Wohnung bin, öffne ich das Fenster, nehme ordentlich Anlauf und springe raus.
Neun
Es muss weit nach Mitternacht sein. Obwohl es stockdunkel ist, weiß er, dass er sich in seinem Hausflur befindet. Er erkennt es an dem typischen Geruch nach feuchtem Beton und abgestandenem Essen. Bis auf seine Boxershorts ist er nackt. Die bloßen Füße frieren auf dem kalten Linoleum. Mit vorgestreckten Armen tastet er sich blind durch die Finsternis. Es ist irgendwie so, als würde er sich unter Wasser bewegen. Nein, nicht Wasser. Etwas anderes, dickflüssigeres. Sirup vielleicht.
Er hört seinen eigenen, keuchenden Atem und das Tappen seiner vorsichtigen Schritte, ansonsten ist es vollkommen still. Er scheint allein in dem riesigen Haus zu sein. Mit der rechten Hand fährt er über die rissige Wand, er ist sicher, dass hier irgendwo der Lichtschalter sein muss. Schließlich findet er ihn, drückt, irgendwo klackt ein Relais, doch es bleibt dunkel. Sämtliche Neonröhren müssen kaputt sein. Er flucht leise, zuckt dann zusammen, als plötzlich weit vor ihm, mindestens dreißig Meter entfernt, eine einzelne Röhre aufflackert. Für einen kurzen Moment ist der hintere Teil des Flurs in helles Licht getaucht. Er sieht die dunkelbraunen Türen, die rechts zu den einzelnen Wohnungen führen. Links von ihm ist ein Feuerlöscher an die Wand geschraubt.
Dann ist es wieder dunkel.
Er hat keine Ahnung, wie er hierhergekommen ist. Und er weiß nicht, was er hier soll. Aber er spürt, dass er dieses Haus schnellstens verlassen muss.
Irgendwo wird ein Radio angestellt. Die Musik ist undeutlich. Sie scheint von weit her, aus einer der Etagen unter ihm zu kommen. Obwohl fast nur Bässe und das Wummern des Schlagzeuges zu ihm heraufdringen, erkennt er einen alten Police-Titel.
Er steht jetzt direkt vor dem Fahrstuhl. Die rot leuchtenden Ziffern des Digitaldisplays zeigen an, dass der Aufzug im Erdgeschoss ist. Er drückt auf den Taster mit dem Pfeil nach oben, im Schacht ist ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen, als sich der Fahrstuhl tief unten in Bewegung setzt. Je näher er kommt, desto lauter wird die Musik. Der Bass rumpelt in monotonen Achtelnoten vor sich hin: »Every breath you take«, er hat den Titel immer gemocht.
Wieder flackert die Neonröhre auf. Er glaubt, eine Gestalt zu sehen, die weit hinten an der Wand lehnt und in seine Richtung blickt. Er kneift die Augen zusammen, doch bevor er etwas erkennen kann, ist es wieder dunkel.
Every step you take, every move you make, I’ll be watching you!
, dröhnt es herauf. Der Aufzug kommt näher. Das Licht flackert auf, neben dem Fahrstuhl liegt ein großer, wattierter Umschlag auf dem staubigen Boden. Vorsichtig hebt er ihn auf, dreht ihn in den Händen.
Kontrolle ist
Weitere Kostenlose Bücher