Zorn - Tod und Regen
besser
steht darauf. Der Spruch, den Malina auf den Brief mit dem Taschenspiegel geschrieben hat.
Er sieht sich um. Die Gestalt ist verschwunden, auf dem Display über der Tür blinkt eine leuchtende 12. Das Dröhnen wird lauter, der Fahrstuhl muss jeden Moment da sein. Die letzten Takte des Liedes erklingen.
I’ll be watching you.
Jetzt wechselt die Anzeige, die Zahlen verschwinden, Buchstaben erscheinen, sie laufen über das Display wie auf einer Werbetafel im Supermarkt. Wieder kneift er die Augen zusammen, als er die Aufschrift entziffert. Es ist dieselbe wie auf dem Umschlag:
KONTROLLE IST BESSER
Ihm ist, als würde er jemanden leise auflachen hören. Der Aufzug steht. Dann ist es still. Ein kalter Windstoß fegt über den Flur. Fröstelnd zieht er die Schultern hoch. Er würde gern weglaufen, doch seine Füße gehorchen nicht. Er sieht hinauf zum Display. Neue Buchstaben erscheinen. Sie geben das einzige Licht, ein dunkles, rotes Glühen, das sich vage auf seinem Gesicht und der gegenüberliegenden Wand abzeichnet.
ELLA , TOM , CLARA UND HENNING MAHLER WOHNEN HIER .
Die Anzeige erlischt. Ein leiser Gongschlag ertönt, die Aufzugtür öffnet sich quietschend, fährt langsam zur Seite. Eine ungeheure Hitzewelle schlägt ihm entgegen, er prallt zurück, schützend hält er die Hand vor das Gesicht, senkt sie dann wieder.
Er erkennt Clara Mahler sofort, obwohl er sie nur kurz auf einem Foto gesehen hat. Sie steht in der Kabine, sieht ihn an, die Schultern gesenkt, in ein diffuses, grünliches Licht getaucht. Sie trägt denselben Trainingsanzug wie Malina, vielleicht etwas dunkler, um die Schultern hängen dieselben Kopfhörer. Er öffnet den Mund, um ihr zu sagen, dass sie tot ist, dass sie hier, in seinem Haus, nichts zu suchen hat, doch außer einem erstickten Krächzen bringt er keinen Laut hervor.
Ein leises Plätschern ist zu hören, als sie einen Schritt vortritt. Er muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass das, wodurch sie watet, Blut ist. Dass die komplette Kabine in Unmengen von Blut getaucht ist. Blut, das in dem grünlichen Licht schwarz schimmert und den Trainingsanzug durchnässt hat, der eigentlich Malina gehört. Das Display flackert auf.
HEUTE HAPPY HOUR : BLOODY MARY ZUM HALBEN PREIS !
Clara Mahler streckt ihm lächelnd die Arme entgegen. Er sieht, dass das Blut von ihr stammen muss, es fließt in stetigen, pulsierenden Strömen aus ihren Handgelenken. Ihr Haar ist feucht, sie trägt es jetzt zu einem kurzen Zopf gebunden.
Er schließt die Augen, weil er ahnt, was geschehen wird. Riecht den Fliederduft, hört, dass jemand leise nach ihm ruft. Als er die Augen wieder öffnet, sieht er, dass nicht Clara Mahler, sondern Malina vor ihm steht. Sie lächelt nicht mehr. Langsam, wie in Zeitlupe, öffnet sie den Mund. Ein paar Sekunden steht sie so da, mit offenem Mund, dann würgt sie, und ein Schwall Blut ergießt sich über ihn. Panisch versucht er, sich abzuwischen, vergeblich, immer mehr Blut folgt, es läuft an seinem Körper hinab, verklebt seine Nase, seinen Mund, er schreit, als sich ihr Gesicht vor seinen Augen mit tiefen Wunden überzieht, jetzt ist sie nicht mehr Malina, sondern die Tote vom Wehr, sie kreischt, ein hohes, wimmerndes Fauchen, sie kommt näher, greift nach ihm, er sieht ihre schwarzen Augenhöhlen, die weißen, teigigen Hände, er geht in die Knie, schlägt um sich, endlich kann er wieder laufen, rennt los, dann erhält er einen fürchterlichen Schlag gegen den Kopf, er fällt, krümmt sich am Boden und dann …
*
… erwachte er von seinem eigenen Gebrüll, einer irgendwie unentschlossenen Mischung aus Angst- und Schmerzensschreien.
Zorn lag im Flur, auf dem Teppich vor dem Bad, er musste im Schlaf aufgestanden, losgerannt und mit voller Wucht gegen die halboffene Badezimmertür gekracht sein. Benommen setzte er sich auf, tastete vorsichtig nach der Stirn und spürte die Beule, die sich dort bildete. Er war über und über mit kaltem, klebrigem Schweiß bedeckt, im Mund spürte er einen metallischen Geschmack, und als er die Hände hob, sah er, dass seine Fingernägel tiefe, halbmondförmige Abdrücke in seinen Handballen hinterlassen hatten.
Vorsichtig stand er auf. Durch die halboffene Tür sah er sein zerwühltes Bett. Die Nachttischlampe, ein hässlicher Würfel aus rosafarbenem Milchglas, lag zerborsten auf dem Boden. Er musste das Ding, ein Geschenk seiner Mutter zu seinem 30. Geburtstag, im Schlaf heruntergerissen haben.
Zorn ging unter die Dusche,
Weitere Kostenlose Bücher