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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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fand Mietbescheide, Heizkostenabrechnungen, eine vergilbte Bedienungsanleitung für den Hometrainer. Keine Briefe. Kein Tagebuch. Nichts Persönliches.
    Es macht keinen Spaß, in den Sachen einer Toten zu wühlen, dachte er und ging zur nächsten Schublade über. Ich sollte das alles der Spurensicherung überlassen und lieber etwas anderes tun. Etwas, das mir Freude bringt vielleicht.
    Er stieß auf einen Reiseprospekt, den sie sich aufgehoben hatte. Lanzarote, dachte er und blätterte durch die bunten Seiten. Oder Portugal, die Algarve? Ich könnte einfach in die Sonne fliegen. Auswandern. Fort aus diesem matschigen Mief, dahin, wo’s warm ist. Und trocken. Ein anderes Leben beginnen. Geld hab ich genug, jedenfalls so viel, dass es für einen Neuanfang reichen würde.
    Zorn seufzte leise. Er wusste, dass er niemals die Kraft dazu haben würde, er war einfach zu träge. So stand er auf, streckte gähnend die Arme und hörte, wie es in seinem Rücken knackte. Ging zur Tür, drehte sich noch einmal um. Zögerte. Die untere Schublade hatte er noch nicht durchsucht. Eine Sekunde war er unentschlossen, dann ging er zurück. Im letzten Schubfach stieß er auf ein eng beschriebenes, braunes Schulheft. Er erkannte sofort, was er vor sich hatte.
    Sigrun Bosch, du hast Briefe an deinen toten Sohn geschrieben. Ich danke dir.

Dreizehn
    Mein geliebtes Kind,
    ich bitte Dich nicht um Verzeihung. Ich kann nichts erhoffen, was ich mir nicht selbst gewähren würde. Es ist jetzt ein halbes Jahr her, dass ich Dich getötet habe, und es vergeht keine Sekunde, in der ich mir nicht selbst den Tod wünsche.
    Alle sagen, dass es ein Unfall war. Aber was macht das schon aus? Niemand soll zusehen müssen, wie das eigene Kind verblutet, und als Du neben mir im Auto so langsam, so unendlich langsam gestorben bist, war auch mein Leben vorbei.
    Ich habe aufgehört zu arbeiten. Es geht nicht mehr. Wenn ich vor der Klasse stehe, sehe ich in den Gesichtern meiner Schüler nur eines: Dich. Jedes Lachen, jede kleinste Bewegung, jeder Laut erinnert mich an Dich. Ich will die Kinder packen, anschreien. Ich will sie schlagen, wieso sind sie am Leben und Du nicht? Warum ist nicht eines von ihnen gestorben? Es ist so ungerecht!
    Ich denke an all die Jahre, die noch vor mir liegen. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Es gibt keine Hoffnung. Wie schön wäre es, wenn Du irgendwo auf mich warten würdest, auf einer Wolke oder hinter dem Vollmond, den wir uns immer angesehen haben, erinnerst Du Dich? Oh, ich würde es so gern glauben … Aber ich weiß, dass es nicht so ist, ich habe gesehen, wie Deine Augen stumpf wurden, wie Dein Leben einfach verpufft ist wie Luft aus einem kaputten Reifen.
    Wir werden uns nicht wiedersehen. Denn Du bist tot. Tot. Tot.
    Ich werde versuchen, noch ein wenig weiterzuleben.
    Schlaf gut, mein Sohn.
    *
    Zorn reckte sich, rieb mit Daumen und Zeigefinger die müden Augen und sah auf die Uhr. Kurz vor sieben, eigentlich war schon längst Feierabend. Wochenende. Gegen Mittag hatte der Regen nachgelassen, vom Fluss war ein dichter Nebel herauf über die Stadt gezogen, so, als wolle er dem Wasser folgen und jetzt auch die Stadtteile, die bisher von der Flut verschont waren, ebenfalls in Beschlag nehmen.
    Er hatte drei Stunden gebraucht, um zurück ins Präsidium zu kommen. Für eine Strecke, die er unter normalen Umständen in ein paar Minuten zurücklegte. Dann hatte er sich in sein Büro verzogen und begonnen, das braune Schulheft zu lesen.
    Ich durchwühle die Sachen fremder Leute, lese die Briefe ermordeter Menschen an ihre toten Kinder und mache auch noch Überstunden. Jeder Müllmann ist besser dran, dachte er ein wenig selbstmitleidig.
    Er hatte sich fest vorgenommen, Henning Mahler anzurufen. Das würde er auch noch tun. Aber vorher musste er noch ein wenig lesen. Selbstmitleid hin oder her – er würde das jetzt irgendwie hinter sich bringen.
    *
    »Guten Tag, spreche ich mit Adam Bosch?«
    »Wer will das wissen?«
    »Die Kriminalpolizei, Hauptkommissar Schröder hier, ich muss Sie dringend sprechen, Herr Bosch. Es geht um Ihre Schwester. Ich weiß, es ist spät, aber–«
    »Polizei?«
    »Ja, wir müssen –«
    Ein kurzes Knacken. Adam Bosch hatte aufgelegt.
    Schröder drückte die Wahlwiederholung. Lauschte dem Besetztzeichen, warf das Telefon auf den Schreibtisch und stand auf. »So nicht, mein Lieber«, knurrte er, »so nicht.«
    Nahm seine Jacke und verließ das Präsidium.
    *
    Hannah Saborowski lag derweil

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