Zorn - Tod und Regen
sich noch einmal um. »Weil ich Ihnen sonst auf den Teppich kotze«, sagte er leise und ging.
*
Okay, seufzte Zorn und klappte das braune Heft zu. Die letzten Seiten hatte er nur noch überflogen, ständig bemüht, die Augen offen zu halten.
Er war müde, furchtbar müde. Konkrete Hinweise auf die Umstände von Sigrun Boschs Tod hatte er nicht gefunden. Auf den ersten Blick deutete nichts darauf hin, dass sie sich bedroht gefühlt hatte. Das, was er da gelesen hatte, waren die Worte eines unendlich traurigen, einsamen Menschen, sie klangen eher wie der Abschiedsbrief einer Frau, die mit dem Leben abgeschlossen hat.
Er nahm sich vor, das Heft später noch einmal in Ruhe zu lesen. Vorher würde er es Schröder geben. Vier Augen lesen mehr als zwei, dachte er und sah nach draußen.
Der Nebel hatte sich zu einer dicken Brühe verdichtet, ein böiger, kalter Wind rüttelte am Fenster seines Büros. Nächste Woche ist schon der erste Mai, überlegte Zorn, ging zurück zum Schreibtisch und nahm sein Telefon. Man könnte denken, wir sind mitten im Februar. Wo bleibt nur der verdammte Frühling?
Dann wählte er die Nummer von Henning Mahlers Handy. Lauschte dem Rufzeichen und überlegte, dass er jetzt viel lieber nach Hause fahren würde. Als die Mailbox anging, legte er auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Spielte kurz mit dem Gedanken, ein weiteres Mal anzurufen, ließ es dann aber bleiben.
Ich ruf ihn morgen früh noch mal an, dachte er. Ich habe jetzt über dreizehn Stunden gearbeitet, das reicht für heute. Jetzt brauch ich ein Bier, ein paar Zigaretten und eine Pixies-Platte. Vielleicht auch Radiohead. Aber dann schlafe ich.
*
Es war weit nach Mitternacht, als Hannah Saborowski ihre Wohnungstür abschloss und in Richtung Innenstadt ging. Sie war wütend. Nein, nicht wütend, eher enttäuscht. Vor ein paar Stunden noch war sie so sicher gewesen, dass Zorn sich melden würde. Je später es wurde, desto klarer war ihr geworden, dass sie sich geirrt hatte. Eine Weile war sie ruhelos durch ihre Wohnung gelaufen, dann hatte sie sich entschlossen, im
Basement
ein Glas Wein zu trinken. Schließlich war Freitag, sie konnte morgen ausschlafen, und vielleicht, hatte sie überlegt, würde sie Zorn ja dort treffen. Obwohl es unwahrscheinlich war.
Sie bog in die Salzstraße ein, eine steile Gasse, die hoch zu einem Taxistand an der Hauptstraße führte. Das trübe Licht der vorsintflutlichen Gaslaternen kämpfte vergeblich gegen die Dunkelheit. Die alten Bürgerhäuser, die sich links und rechts hinter schmiedeeisernen Gittern den Hügel hinaufzogen, blieben in der nebligen Suppe verborgen.
Es war, als ginge sie durch Watte. Selbst, wenn sie sich anstrengte, konnte sie nicht mehr als drei, vier Meter weit sehen. Aber sie war diesen Weg schon hundert Mal gegangen und wusste, dass sie in ein paar Minuten die Hauptstraße erreichen würde.
Es war ungewöhnlich still. Der Nebel schluckte sämtliche Geräusche, und es schien, als sei niemand außer ihr auf der Straße. Das Einzige, was sie hörte, war das Klappern ihrer Absätze auf dem nassen Kopfsteinpflaster und ihr eigener, regelmäßiger Atem, der eine feine Wolke vor ihrem Gesicht bildete.
Plötzlich kniff sie die Augen zusammen, die Schweinwerfer eines Taxis leuchteten auf. Zwei schmale Tunnel aus Licht bohrten sich in den Nebel. Für einen Moment wurde ein riesiges Baustellenschild vor der maroden Fassade des alten Solbades in gleißende Helligkeit getaucht. Hannah trat auf die Straße und hob den Arm. Vergeblich. Das Taxi fuhr vorbei. Sie blieb stehen und beobachtete, wie der Wagen mit blinkenden Bremslichtern im Dunst verschwand.
Dann war es wieder still. Und dunkel.
Sie holte tief Luft und machte sich mit hochgezogenen Schultern erneut auf den Weg. Nach wenigen Metern schrak sie zusammen, als eine kleine, schemenhafte Gestalt vor ihr über die Straße schoss.
»Ein Wiesel«, murmelte sie leise. »Oder eine Katze.« Sie lächelte kurz. »Von rechts nach links – Glück bringt’s.«
Das waren die letzten Worte von Hannah Saborowski. Die Drahtschlinge, die sich von hinten um ihren Hals legte, schnitt tief in das weiche Fleisch oberhalb ihres Kehlkopfes und schnürte ihr in Sekundenbruchteilen die Luft ab. Es knackte, als ihr Kopf mit furchtbarer Gewalt nach hinten gerissen wurde. Dann hing sie in der Luft wie eine Marionette an einem dünnen, stählernen Faden und führte in dem vergeblichen Versuch, festen Boden unter die Füße zu bekommen, einen wilden,
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