Zorn - Tod und Regen
kroatisch ist und ›grau‹ bedeutet.«
Der LKW beschleunigte, Zorn fuhr ebenfalls schneller.
Schröder sah kurz auf. »Ich weiß nicht, ob es klug ist, über den unteren Knoten zu fahren.«
»Wieso?«
»Oberhalb der Stadt ist ein Damm gebrochen, und im Radio kam, dass –«
»Mist!« Zorn stöhnte und trat mit aller Kraft auf die Bremse. Es quietschte heftig, Schröder rutschte unter dem Sicherheitsgurt nach vorn, hielt mit der linken Hand das Macbook fest und stützte sich mit der Rechten am Armaturenbrett ab.
»… der untere Knoten überschwemmt ist«, beendete Schröder seinen Satz, als wäre nichts geschehen. Der Volvo war ein paar Zentimeter hinter dem LKW zum Stehen gekommen.
Fluchend schlug Zorn auf das Lenkrad. »Warum hast du das nicht vorher gesagt?«
»Du hast mich nicht gefragt. Und ich bin davon ausgegangen, dass du das weißt.«
Zorn fuhr die Seitenscheibe herunter, beugte sich aus dem Fenster und sah nach vorn. Sie befanden sich auf der Auffahrt zur Hochstraße. Diese führte über den Fluss und stellte die Hauptverbindung zwischen Alt- und Neustadt dar, war allerdings baufällig und seit Monaten gesperrt. So war man gezwungen, den direkt am Fluss gelegenen unteren Knoten, einen zweispurigen Kreisverkehr, zu benutzen. Rechts von ihnen befand sich das ehemalige Klubhaus der Gewerkschaften, ein riesiger, heruntergekommener Bau, der seit Jahren leer stand. Links zweigte eine Spur ab, die hinab zum Knoten führte. Weiter hinten reckten sich die Türme der Marktkirche in den trüben Himmel.
Vor ihnen reihte sich Auto an Auto. Ein ohrenbetäubender Lärm herrschte, es schien, als würden sämtliche Fahrer gleichzeitig mit aller Kraft auf die Hupen drücken. Weiter unten, mindestens fünfhundert Meter entfernt, blinkte Blaulicht, Sirenen heulten, Absperrbänder flatterten im Wind, und Zorn bemerkte, dass der Knoten tatsächlich komplett von einer schmutzigen Wasserfläche bedeckt war.
In der Mitte des Platzes erblickte er eine Straßenbahn, die bis zu den Türen im Wasser stand. Mehrere Autos waren bereits zur Hälfte verschwunden, die dicken Betonstelzen der Hochstraße ragten aus der Flut wie die Türme eines gestrandeten Ozeanriesen. Das städtische Krankenhaus an der Südseite des Kreisverkehrs war bis zum ersten Stockwerk in der trüben Brühe versunken, und Zorn traute seinen Augen nicht, als er mehrere Schlauchboote des Technischen Hilfswerks über den neu entstandenen See schwimmen sah. Uniformierte Beamte in hellen Regenmänteln versuchten hektisch, das Chaos zu ordnen.
Zorn schloss das Fenster und lehnte sich resigniert zurück. Hinter ihnen standen die Autos jetzt ebenfalls Stoßstange an Stoßstange. Sie waren eingekeilt.
»Das wird eine Weile dauern.«
»Davon ist auszugehen«, erwiderte Schröder, der noch immer eifrig mit seinem Rechner beschäftigt war, ohne aufzusehen.
»Wieso fahren diese Idioten auch alle hier runter?«
Jetzt hob Schröder den Kopf und warf Zorn einen langen, bedeutungsvollen Blick zu.
»Was ist?«, blaffte der.
Der Regen trommelte jetzt mit verdoppelter Kraft auf das Dach des Volvos. Schröder setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment klingelte sein Handy.
»Nichts Chef«, seufzte er.
»Das wollte ich dir auch geraten haben.«
Schröder nahm ab und hörte eine Weile schweigend zu. »Leg’s mir auf den Schreibtisch«, sagte er dann und unterbrach die Verbindung.
»Was gibt’s?«, fragte Zorn nicht eben interessiert.
»Nichts Besonderes. Das war die Pforte, jemand hat eine Anzeige wegen Belästigung erstattet.«
»Belästigung? Weswegen?«
»Krähen.«
»Bitte?«
»Angeblich sitzen in der Waldstraße seit Tagen über hundert Krähen in einem Baum und rühren sich nicht vom Fleck.«
»Schwachsinn«, sagte Zorn und schaltete den Motor aus. Dann überlegte er kurz. »Wie heißt die Straße noch mal?«
»Waldstraße.«
»Welche Nummer?«
»Zwölf.«
Zorn kratzte sich nachdenklich am Kopf.
»Ist was?«, fragte Schröder.
»Nee.«
Waldstraße 12. Die Adresse von Henning Mahler. Das kann nur Zufall sein, dachte Zorn. Irgendein Spinner hat Langeweile und nichts Besseres zu tun, als totalen Blödsinn zur Anzeige zu bringen.
»Da kann sich das Veterinäramt kümmern«, entschied er. »Oder der Zoo.«
*
Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis sie das Chaos am Knoten verlassen konnten, und weitere dreißig Minuten, bis sie die Neustadt erreichten, eine Plattenbausiedlung, die in den fünfziger und sechziger Jahren aus dem lehmigen
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