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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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Boden gestampft worden war. Früher hatten hier die Arbeiter der nah gelegenen Chemiefabriken gelebt, jetzt standen die Betonklötze entweder leer oder wurden zum größten Teil von Sozialhilfeempfängern, Rentnern und Asylanten bewohnt. Die blumigen Straßennamen sollten wohl darüber hinwegtäuschen, dass es in dieser Gegend alles andere als grün war. Auch im Nelken- und im Kornblumenweg gab es außer ein paar kümmerlichen Eiben und kleinen, ungepflegten Rasenstücken vor den Hauseingängen so gut wie keine größeren Pflanzen zu entdecken.
    Die Haustür war offen. Als sie die Treppe zum zweiten Stock emporstiegen, stellte Zorn verwundert fest, dass man den Boden frisch gewischt hatte. Auch an den Wänden waren so gut wie keine Schmierereien zu entdecken.
    »Sigrun Bosch«, las Schröder vor. »Hier ist es.«
    Er öffnete seine Aktentasche und holte ein kleines Bund mit Dietrichen hervor. In weniger als dreißig Sekunden hatte er die Tür geöffnet.
    »Nach Ihnen, Chef.«
    Interessant. Einbrechen kann er also auch, dachte Zorn und betrat die Wohnung.
    Das Erste, was ihm auffiel, war der Geruch. Er erinnerte ihn an seine Kindheit, eine staubige Mischung aus Kaffee, Kölnisch Wasser, Apfelsinen und alten Teppichen. Von einem winzigen Flur zweigten drei Zimmer ab. Zorn wandte sich nach rechts.
    »Moment, Chef.« Schröder reichte ihm ein paar durchsichtige Gummihandschuhe. »Sicher ist sicher.« Zorn nickte und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
    Es ist verdammt eng hier, dachte er und streifte die Handschuhe über. Vor dem Fenster hingen helle, geblümte Gardinen. Die pastellfarbene, gemusterte Tapete ließ den Raum kleiner erscheinen, als er eh schon war. Über einem geschwungenen Sofa hingen Dutzende, in vergoldeten Gips gerahmte Fotografien, davor stand ein niedriger Couchtisch, auf dem eine Lesebrille und eine aufgeschlagene Bildzeitung lagen. Zorn nahm sie und sah aufs Datum. »Die ist vom 16. April.«
    »Letzten Montag? Das passt vom zeitlichen Ablauf, an diesem Tag ist sie …« Schröder stockte, sah sich um und bemerkte nach kurzem Überlegen verwundert: »Kein Fernseher.«
    »Ich hab auch keinen.«
    »Echt? Ich auch nicht.«
    »Dann sind wir beide jetzt wohl die Letzten in dieser Stadt.«
    »Wahrscheinlich, Chef.« Schröder setzte sich aufs Sofa und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Auf den ersten Blick das Zimmer einer normalen, allein lebenden Frau, oder?«
    »Bis auf die fehlende Glotze.«
    »Vielleicht hat sie lieber Radio gehört.« Schröder deutete nach rechts, auf eine billige Stereoanlage auf einer gedrechselten Kommode. Darüber hing ein altmodisches Leinentuch mit einem verschnörkelten, in dunkelblauen Buchstaben gestickten Spruch. Zorn trat näher.
    »Die Wüste wächst, wehe dem, der Wüsten birgt
.
«
    Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, überlegte er. Klingt aber spannend.
    »
Also sprach Zarathustra
«, meldete sich Schröder aus dem Hintergrund.
    Zorn drehte sich um. »Was?«
    Schröder zeigte auf den Spruch. »Friedrich Nietzsche.«
    »Das ist mir klar«, erwiderte Zorn, der noch immer keinen Schimmer hatte, was Schröder meinte. Er setzte sich auf die Kante des Sofas. »Was wissen wir noch? Außer, dass sie Lehrerin war?«
    »Ich hab mir ihre Daten mailen lassen. Keine Vorstrafen, nicht mal einen Strafzettel. Sie lebte allein, hat sich kurz vor Weihnachten pensionieren lassen.«
    »Deshalb hat sie wohl niemand vermisst.«
    »Es gibt einen Bruder, einen arbeitslosen Stuckateur.«
    »Bestell ihn so schnell wie möglich ins Präsidium.«
    Schröder nickte. »Ich schicke heute Nachmittag drei Leute her, die die Nachbarn befragen.«
    Zorn dachte kurz nach. »Das wird nichts bringen, hier weiß niemand, was der andere macht. Aber schaden kann es nicht.« Er stand auf und öffnete das Fenster. Einen Moment lang genoss er die frische, feuchte Luft, dann wandte er sich den Fotos an der Wand zu. Auf allen sah man ein und dieselbe Person, einen dunkelhaarigen Jungen.
    »Das muss ihr Sohn sein«, sagte Schröder hinter ihm.
    »Sie hatte einen Sohn?«
    Die Bilder waren zu unterschiedlichen Anlässen gemacht worden. Eins zeigte die Einschulung, der Junge hielt eine riesige Zuckertüte in der Hand und sah ernst und konzentriert in die Kamera. Ein anderes war beim Schwimmen aufgenommen worden, Zorn erkannte das Nordbad. Das Kind stand lachend am Beckenrand und setzte zum Sprung an. Weitere Fotos waren beim Reiten gemacht worden, im Zoo, es gab Aufnahmen, die den Jungen im Alter von

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