Zorn - Tod und Regen
vielleicht zwei Jahren dick eingepackt auf einem Schlitten zeigten, und ein Foto, auf dem ein Baby zwischen Bauklötzen spielte. Bilder, die es millionenfach von anderen Kindern gab.
»Er ist vor einem halben Jahr ums Leben gekommen.«
»Und wie ist das passiert?«, fragte Zorn, ohne sich umzusehen.
Er hörte, wie Schröder hinter ihm mit ein paar Papieren raschelte. »Autounfall. Nach Aktenlage ist sie selbst gefahren und völlig unverletzt geblieben. Sie müssen eine Weile eingeklemmt gewesen sein. Als sie befreit wurden, war der Junge schon tot. Er war zwölf. Kurz danach hat sie ihre vorzeitige Pensionierung beantragt.«
Manchmal bin ich froh, dass ich keine Kinder habe, überlegte Zorn. Es gibt Dinge, die ich niemals erleben möchte. Es ist schon schlimm genug, davon zu hören. Wie kann sie das verkraftet haben?
»Was ist mit dem Vater?«, fragte er dann.
»Unbekannt.«
Zorn baute sich dicht vor den Bildern auf. Eines zeigte eine junge Frau im Alter von vielleicht dreißig Jahren. Die Aufnahme musste in einem Atelier entstanden sein: die Frau stand vor einer Fototapete mit einem kitschigen Südseestrand, das dunkle Haar war zu einem Dutt hochgesteckt. Sie lächelte schüchtern in die Kamera und trug ein helles, schulterfreies Sommerkleid.
Sigrun Bosch, dachte Zorn. So hast du also ausgesehen. Du warst mal eine schöne Frau.
Er räusperte sich.
»Also, was machen wir, Schröder?«
»Wir müssen die Fotos checken, die Nachbarn befragen und die Spurensicherung holen.«
»Das bedeutet, dass wir Sauer informieren müssen.«
Schröder zuckte die Achseln. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, Chef.«
Verdammt, irgendwas muss in dieser Bude doch zu finden sein, überlegte Zorn. Er setzte zum Sprechen an, wurde aber von Madonna unterbrochen, die wieder einmal lautstark mitteilte, dass sie sich wie eine Jungfrau fühle. Zorn seufzte und nahm ab.
»Du hast angerufen?«, fragte Hannah. Sie war offensichtlich bester Laune. Im Gegensatz zu Zorn, der wütend aufsprang. »Bist du noch ganz bei Trost? Wieso gehst du nicht an dein verdammtes Telefon?«
»Der Akku war leer. Wieso regst du dich so auf?«
»Weil …« Er stockte und fuchtelte hilflos mit der linken Hand durch die Luft.
»Ja?«
Zorn drehte Schröder den Rücken zu, senkte die Stimme und knirschte: »Ich hab mir Sorgen gemacht.«
Eine Pause entstand.
»Oh, das ist schön, Claudius.«
»Wo bist du?«
»Wo soll ich schon sein? Im Büro.«
»Und Sauer?«
»Nicht da. Hat sich krank gemeldet.«
»Okay. Bis später.« Ohne eine Antwort abzuwarten, klappte Zorn das Handy zu.
»Du«, sagte er zu Schröder, »fährst ins Präsidium. Kümmer dich um den Bruder, schick mir die Spurensicherung und ein paar Kollegen, die die Nachbarn befragen. Ich sehe mir den Rest der Wohnung an. Sauer ist krank, wir haben also Ruhe.«
»Er hat sich krank gemeldet?«
»Ja.«
»Das hat er meines Wissens noch nie getan.«
»Er wird seine Gründe haben.«
Schröder stand auf, blinzelte kurz und sagte dann: »Da wäre noch eine Sache, Chef.«
»Der Volvo bleibt hier, Schröder.«
»Und wie komme ich ins Präsidium?«
»Nimm die Straßenbahn.«
»Die fährt nicht. Der Knoten ist überschwemmt, falls ich daran erinnern darf.«
»Dann nimm ein Boot.«
»Hahaha«, sagte Schröder gedehnt, griff seine Tasche und ging.
*
Die Küche war blitzblank und sauber, man hätte denken können, sie sei erst vor ein paar Minuten verlassen worden. Nur eine vertrocknete Geranie auf dem Fensterbrett und die Tasse mit einem schimmligen Kaffeerest in der Spüle deuteten darauf hin, dass seit fast zwei Wochen niemand hier gewesen war.
Zorn ging ins Schlafzimmer. Eine Wand wurde von einem Bücherregal eingenommen, das bis zur Decke reichte. Das Doppelbett war nur auf einer Seite bezogen, daneben stand ein Hometrainer. Auch hier überall Bilder des Jungen, darunter bunte, ungelenke Kinderzeichnungen. Ein halbes Dutzend hing an der Wand über dem Bett, ein weiteres Foto stand in einem Klapprahmen auf einem schmalen Schreibtisch vor dem Fenster.
Er nahm auf einem Stuhl davor Platz, stützte die Hand aufs Kinn und dachte nach. Eine stinknormale Lehrerin wird gefoltert, getötet und dann am Wehr abgeladen wie ein Stück Dreck. Später finden wir heraus, dass sie kurz vor ihrem Tod Schmerzmittel bekommen hat. Was soll das alles? Gedankenverloren wischte Zorn mit dem Finger über die Tischplatte, auf der sich eine feine Staubschicht gebildet hatte.
Er öffnete eine der Schubladen,
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