Zorn und Zärtlichkeit
Anblick dieses strahlenden Lächelns glaubte Jamie, sein Herz würde stehenbleiben. Und dann kicherte sie glucksend.
»Soviel ich weiß, habe ich schon einigen Männern den Kopf verdreht«, sagte sie belustigt. »Aber einer, dem ich die
Sprache verschlagen habe, ist mir noch nie begegnet. Irgendwie gefällt mir das.«
J amie wäre zutiefst beleidigt gewesen, hätte jemand anderer als seine Nixe gewagt, ihn so zu necken. Doch ihr Gelächter entzückte ihn, und ihr Spott störte ihn kein bißchen.
»Ich - ich habe noch nie zuvor die Stimme verloren. Und jetzt, wo sie mir wieder gehorcht, möchte ich Euch fragen, wer Ihr seid.«
»Das will ich Euch nicht sagen.«
»Warum nicht?«
Anmutig zuckte sie mit den Schultern und senkte den Blick. »Das weiß nicht einmal Colen. Warum sollte ich es ausgerechnet Euch anvertrauen?« Sie stand auf, ging zum Tisch und nahm ein Zuckerbrötchen von der Servierplatte.
»Ihr seid keine MacKinnion?«
»Gott bewahre!«
Jamie runzelte die Stirn. »Woher kommt Ihr dann?«
»Der Junge hat mich in Aberdeen aufgelesen«, lautete Sheenas ausweichende Antwort.
»Seid Ihr dort zu Hause?«
Ihre Augen verengten sich. »Ich habe kein Zuhause mehr. Aber - wer seid Ihr? Warum stellt Ihr mir so viele Fragen?«
»Hat Colen Euch nichts von mir erzählt?«
»Er hat nur von einem Bruder gesprochen - sonst von niemandem.«
»Ich bin sein Bruder«, erklärte Jamie.
»Ihr - Ihr seid...«, begann sie zu stammeln.
Verblüfft beobachtete er, wie sie über das Bett kroch und sich dahinter an die Mauer preßte. Sie duckte sich, als wollte sie versuchen, in die Steinmauer zu kriechen.
»Was soll der Unsinn?« wollte er wissen.
Sie schwieg, und er sah nacktes Entsetzen in ihren Augen. »Antwortet mir!« befahl er streng, und dann klang eine Stimme hinter ihm auf.
»Was machst du denn hier?«
Jamie wandte den Kopf und sah Colen hereinkommen.
Das Mädchen rannte schnell wie der Blitz zu Colen und warf sich in seine Arme.
Eine unerwartet heftige Eifersucht stieg in Jamie auf. Da war sie, seine schöne Nixe, die er gesucht, von der er unzählige Male geträumt hatte. Und sie lag in den Armen seines Bruders. Was ihm nicht gelungen war - Colen hatte es geschafft und sie gefunden.
»Was hast du ihr getan?« stieß der Junge erbost hervor.
»Was ich ihr getan habe?« schrie Jamie wütend. »Gar nichts! Ich stand hier und sprach mit ihr - und kaum hatte sie erfahren, wer ich bin, gebärdete sie sich, als wäre ich der Teufel persönlich. Vielleicht würde sie mir mal sagen, warum.«
Colen zog verwirrt die Stirn in Falten. »Nun, Sheena?«
Doch sie schüttelte stumm den Kopf und klammerte sich an ihn.
»Also, was hat das zu bedeuten?« fragte der Laird.
»Hör auf, Jamie!« entgegnete sein Bruder. »Siehst du nicht, dass sie völlig verstört ist?«
»Wie ich gestehen muss , bin ich auch ein bißchen durcheinander. Jetzt möchte ich endlich wissen, wer sie ist und warum du es für nötig hältst, sie in deinem Zimmer einzusperren.«
»Sie ist ein armes Mädchen, Jamie, ohne Zuhause und ohne nennenswerte Familie. Sie hat in Aberdeen im Armenhaus gewohnt.«
»Eine Bettlerin. Ich verstehe. Und was hast du mir sonst mitzuteilen?«
»Dies ist nicht der rechte Zeitpunkt... Autsch!«
Sheena hatte ihn mit aller Kraft in den Arm gekniffen. Nun schob sie ihn von sich. »Ihr werdet ihm alles sagen, Colen! Sofort!«
»Ah, das Fräulein kann endlich wieder reden«, bemerkte Jamie spöttisch.
Sheena fuhr zu ihm herum, doch dann wich sie zurück. Sie brachte es immer noch nicht fertig, mit James MacKinnion zu reden, nachdem sie so viele schreckliche Geschichten über ihn gehört hatte.
Wäre sie nicht so verängstigt gewesen, hätte sie die Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern bemerkt, obwohl Colen kupferrotes und Jamie goldblondes Haar hatte. Nur eins fiel ihr auf - wie jung der Laird von MacKinnion wirkte und wie gut er aussah. War das wirklich ihr gefürchteter Feind? So hatte sie sich den wilden MacKinnion ganz sicher nicht vorgestellt.
Jamie seufzte und setzte sich auf das Bett. »Colen, mein Junge, allmählich verliere ich die Geduld mit euch beiden. Ich frage dich jetzt zum letztenmal, was hier vorgeht.«
Colen schluckte mühsam, dann platzte er heraus: »Ich will sie heiraten.«
»Heiraten?« Jamie lachte schallend. »Du hast sie doch schon. Wozu willst du sie noch heiraten?«
Die Selbstverständlichkeit, mit der er die Situation verkannte, trieb Sheena das Blut in die Wangen. Diese
Weitere Kostenlose Bücher