Zorn und Zärtlichkeit
seines Vetters. Er erinnerte sich nur zu gut an den Überfall im Frühling, an die Verzweiflung Gawains, der beim Anblick seiner toten Schwester blutige Rache geschworen hatte. War sein Zorn von neuem aufgeflammt? Hatte er sich deshalb auf Iain gestürzt - um Vergeltung zu üben?
»Hast du den Mann erstochen?« fragte Jamie ohne Umschweife.
»Ja.«
»War es ein Unfall?«
»Nein.«
Jamie holte tief Atem und bezähmte mühsam seine Erregung. Gawain zeigte keine Reue, sein Kampfgeist schien ungebrochen.
»Du wirst mir sagen warum.«
Der scharfe Tonfall des Lairds ließ keinen Zweifel an seiner Mißstimmung aufkommen, und Gawain war klug genug, um sich zu mäßigen. »Du brauchst nicht zu befürchten, dass ich es grundlos tat, Jamie«, antwortete er, etwas sanfter als zuvor. »Der Mann stand auf und wollte sich auf mich stürzen. Wenn er langsam und ungeschickt war und mein Dolch ihn zuerst traf - wer trägt die Schuld daran? Immerhin hat er mich herausgefordert.«
»Er hätte Euch niemals angegriffen!« rief Sheena. »Ich kenne Iain. Er war kein Kämpfer...«
Jamie brachte sie mit einem kühlen Blick zum Schweigen. Eine Frau durfte sich nicht in Männergespräche einmischen. »Wer kann mir sonst noch berichten, was geschehen ist?« fragte er und schaute sich um.
»Zweifelst du an mir, Jamie?« fragte Black Gawain.
Der Laird starrte ihn durchdringend an. »Seit wann ist es fair, nur die eine Seite zu hören?«
»Ich will Euch erzählen, wie es war«, meldete sich ein Fergusson zu Wort. »Er lügt!«
»Habt Ihr alles genau beobachtet?« erkundigte sich Jamie vorsichtig.
»Ich saß neben Iain am Tisch«, erklärte der Mann. »Also musste ich es mit ansehen - ob ich wollte oder nicht.«
»In welcher Hinsicht hat mein Vetter gelogen?«
»In jeder!« erwiderte der Mann, ohne zu zögern. »Dieser MacKinnion kam herein, und kaum hatte er sich gesetzt, als er auch schon anfing, den armen Iain zu ärgern. Grinsend brüstete er sich mit seinen Überfällen auf unseren Clan und rechnete ihm vor, wie viele Fergussons er schon getötet hätte. Mit aller Macht versuchte er Iain in Wut zu bringen. Er hätte sich an mich wenden sollen, dann wäre ihm das Lachen vergangen. Aber Iain war nicht wütend. Das dumme Geschwätz ekelte ihn an, und er stand auf, um sich zu entfernen - nicht, um den MacKinnion anzugreifen. Er wäre einfach davongegangen, hätte ihn dieser Mann nicht niedergestochen.«
Wieder trat eine dumpfe Stille ein. Sheena blickte entsetzt von einem zum anderen. Sie glaubte ihrem Clansmann vorbehaltlos, denn sie wusste , was für ein Mensch Black Gawain war. Hatte er nicht auch sie angegriffen, ohne herausgefordert zu werden?
Jamie befand sich in einer schwierigen Lage. Konnte er seinem Vetter eine solche Tat zutrauen? Sie waren im gleichen Alter und zusammen aufgewachsen, und deshalb glaubte Jamie ihn gut zu kennen. Würde Gawain absichtlich einen Kampf heraufbeschwören? Hatte er sich in den Monaten seit dem Tod seiner Schwester so drastisch verändert? Nein, da musste mehr dahinterstecken.
Was soll ich tun, fragte sich Jamie. Soll ich die Behauptung eines Mannes, den ich nicht kenne, höher bewerten als das Wort meines Vetters? Er musste eine Entscheidung treffen.
Die angespannte Atmosphäre, die den Raum erfüllte, schien sich mit jeder Sekunde zu verdichten. Offensichtlich schlug sich der ganze MacKinnion-Clan auf Black Gawains Seite, während alle Fergussons ihrem Verwandten glaubten. Der junge Niall stand auf seinem Stuhl und beobachtete die Szene, eine Hand am Schwertgriff. Würde es dem Laird von MacKinnion gelingen, eine Schlacht zu verhindern?
»Wolltest du einen Kampf vom Zaun brechen, Black Gawain?« Jamie musste diese Frage stellen.
»Nicht unbedingt - aber ich habe mich keineswegs davor gescheut. Wäre ich von Anfang an an einem Kampf interessiert gewesen, hätte ich den Tiefländer ohne Umschweife herausgefordert, statt ihn zu verspotten.«
Jamie seufzte. Sheenas Clan würde seine Entscheidung nicht begrüßen. »Ich glaube, das alles war ein Mißverständnis. Und was hier geschehen ist, kann ich nur als Unfall bezeichnen, so bedauerlich es auch sein mag.«
»So? Meint Ihr!« Dugalds Gesicht lief dunkelrot an. »Und ich glaube, dass es auf Schloss Kinnion keine Gerechtigkeit gibt!«
»Seid doch vernünftig!« ermahnte Jamie den alten Mann. »Es war ein Unfall, und es gibt zuwenig Zeugen, die das Gegenteil beweisen könnten.«
»Ich brauche nur einen einzigen Zeugen!« schrie
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