Zorn und Zärtlichkeit
zweier Fergussons oder eines ganzen Dutzends niemals mehr Gewicht beimessen als der Aussage eines MacKinnion. Sie haben Gawain geglaubt. Nach so vielen haßerfüllten Jahren gab es keine andere Möglichkeit.«
»Oh, doch!« entgegnete Sheena. »Wäre Iain rechtzeitig zu sich gekommen, hätte er dieselbe Geschichte erzählt wie mein Clansmann - eine Geschichte, die er nicht hören konnte, weil er besinnungslos war. Das wäre ein schlagender Beweis gewesen. Du hättest warten müssen, Jamie. Und wenn Iain das Bewußtsein wiedererlangt hätte...«
»Was geschehen ist, ist nun mal geschehen«, unterbrach er sie. »Jetzt kann ich es nicht mehr beklagen.«
»Du könntest es«, widersprach sie bitter. »Aber du willst nicht, weil es dir gleichgültig ist.«
»O Sheena, selbst wenn du mich überzeugen könntest - das würde keinen Unterschied machen. Verstehst du das nicht? Ich musste einen blutigen Kampf verhindern - das allein war wichtig.«
»Und für mich zählt nur die Tatsache, dass dir mein Vater nie verzeihen wird, wie ungerecht du seinen Clan behandelt hast.«
»Ich habe ihm ein neues Blutvergießen erspart«, erwiderte Jamie mit scharfer Stimme. »Ist das vielleicht ungerecht?«
»Es ist also nicht nötig, einem Fergusson Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Willst du das damit sagen, Jamie?«
»Sheena, das alles braucht seine Zeit. Die Fehde ist vorbei, sie wurde beendet, als wir geheiratet haben. Und ich will sie nicht von neuem beginnen, unter keinen Umständen. Allmählich wird man den alten Groll vergessen. Wir können deinen Vater sogar besuchen, und dann will ich mich mit ihm aussöhnen. Die Zeit heilt alle Wunden.«
»Und Black Gawain? Soll er ungestraft davonkommen?«
Er runzelte die Stirn. »Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn für schuldig halte.«
»Er ist aber schuldig!«
Jamie seufzte ungeduldig. »Wenn das stimmt, werde ich auf meine Weise mit ihm verfahren.«
»Wirklich? Oder wirst du es vergessen - sobald du glaubst, ich würde nicht mehr daran denken?«
Er zwang sich mühsam zur Ruhe. »Du muss t versuchen, Verständnis für ihn aufzubringen. Seine Schwester kam im Frühling ums Leben, weil dein Vater beschlossen hatte, die Fehde wiederaufzunehmen. Gawain war...«
»Was?« fiel sie ihm bestürzt ins Wort. »Wir haben nicht damit angefangen. Das warst du!«
»O Sheena, ich will keinen Lügen mehr hören!«
»Ich lüge nicht!«
Jamie beobachtete ihr Mienenspiel. Ihre Erschütterung ging sehr schnell in kalten Zorn über, und er ärgerte sich ebenso. Warum hielt sie an ihrer lächerlichen Behauptung fest? Wusste sie wirklich nicht, dass ihr verräterischer Vater den Frieden gebrochen hatte?
Ihre Hände ballten sich, und sie öffnete den Mund, um ihm neue Anklagen ins Gesicht zu schleudern. Doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich habe jetzt endgültig genug, Sheena.«
»So? Und ich habe von dir genug!« Sie sprang auf, doch er schwang die Beine über den Bettrand und griff nach ihr. Ihre helle Empörung gab ihr genügend Kraft, um sich sofort wieder loszureißen. Er versuchte sie erneut festzuhalten, und da ging ihr Temperament mit ihr durch. Sie wusste , dass sie letzten Endes zu schwach sein würde, um ihn abzuwehren. Und so schlug sie ihn mitten ins Gesicht, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatte. Selbst wenn er die Hand heben sollte, um zurückzuschlagen, würde sie nichts bereuen.
Aber er rührte sich nicht. Ihre Augen schienen saphirblaue Funken zu sprühen, forderten ihn heraus. Trotzdem war er unfähig, sich an ihr zu vergreifen.
»Worauf wartest du?« fauchte sie. »Ich fürchte dich nicht mehr, Jamie. Du kannst mich nicht noch mehr verletzen, als du es schon getan hast.«
»Ich bringe es nicht fertig, dich zu schlagen.«
»Warum nicht?«
Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. »Weil ich mich selber viel mehr verletzen würde als dich«, erwiderte er und hasste sich für diese Gefühle. »Warum wohl?«
Sie wusste es nicht. Ihre Kehle wurde eng. Das verstand sie auch nicht. Und dann küsste er sie, drückte sie an sich, und plötzlich war ihr alles klar. Der Kuss dauerte nicht lange, denn es klopfte laut an der Tür.
Jamie schob seine Frau beiseite, wickelte sich in seinen Tartan und brüllte: »Herein!« Nach dieser unfreundlichen Aufforderung wurde die Tür nur zögernd geöffnet.
Sheena sank wie betäubt auf das Bett. Staunend erkannte sie, wie schnell ihr Ärger verflogen war - nur weil Jamies Lippen die ihren berührt hatten. Wie konnte das
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