Zorn und Zärtlichkeit
möglich sein?
»Ich wollte dich nicht stören, aber es war unvermeidlich«, erklärte Colen seinem Bruder. Seine Stimme klang so merkwürdig, dass er Sheenas ungeteilte Aufmerksamkeit erregte.
Der Laird bemerkte sein Zaudern. »Sprich doch endlich, Colen!«
»Hamishs und Jocks Hütten wurden überfallen. Beide sind verwundet - und es sieht nicht so aus, als würde Hamish überleben Jamies Gesicht schien zu versteinern. »Wieviel Vieh wurde gestohlen?«
»Kein einziges Tier. Alle wurden getötet, und die Hütten brennen.«
Jamies Blick richtete sich auf Sheena. Ihr Atem stockte, denn sie wusste , was er dachte.
Sie stand auf und ging zu ihm. »Nein! Das hat er nicht getan.«
»Doch«, erwiderte er leise. »Im Frühling war es genauso - kein gewöhnlicher Raubzug, sondern ein sinnloses, grausames Gemetzel, in blinder Zerstörungswut... Und ich ließ es geschehen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass er sich erdreisten würde, Rache zu üben für das, was heute geschah. Deshalb habe ich keine Wachen aufgestellt.«
»O Jamie, du irrst dich!«
Er wandte sich wieder zu Colen. »Wie viele Männer haben die Hütten angegriffen?«
»Jock schwört, es wäre mindestens ein halbes Dutzend gewesen.«
»Hat er sie deutlich gesehen?«
Ein langes Schweigen entstand, bevor Colen tonlos entgegnete: »Deutlich genug.«
»Dann sei bitte so freundlich und beschreibe meiner Frau die Tartans der Angreifer.«
Sheena sah den jungen Mann flehend an, aber er wollte nicht lügen. »Es tut mir leid, Mädchen - aber es waren die Farben deines Vaters. Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen.«
Fassungslos starrte sie auf die beiden Männer - den unglücklichen Colen und Jamie, der seine Gefühle nur mühsam verbarg.
»Euer Clansmann hat sich geirrt!« stieß sie hervor. »Und ihr seid beide verachtenswert, wenn ihr etwas anderes glaubt.«
»Geh jetzt und hol mein Pferd aus dem Stall«, befahl Jamie seinem Bruder.
»Das ist unmöglich, Jamie!« schrie Sheena. »Du kannst nicht gegen meinen Clan kämpfen!«
Er kehrte ihr den Rücken, um sich anzuziehen. »Maßt du dir an, meine Absichten zu kennen?« fragte er. Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Sicher findest du die Handlungsweise deines Vaters gerechtfertigt.«
»Das habe ich nicht behauptet. Aber versetz dich einmal in seine Lage. Wäre dir von seifen meines Vaters ein Unrecht widerfahren - hättest du nicht versucht, dich zu rächen?« Er wandte sich wütend zu ihr, doch sie fuhr unbeirrt fort: »Du hättest es getan, das weißt du. Aber mein Vater kann es sich nicht leisten - auch das weißt du. Er wollte diese schreckliche Fehde beenden, und er tat alles, was in seiner Macht stand, um den Fergusson-Clan zu schützen.«
»Du vergisst die Bündnisse, die er durch die Ehen deiner Schwestern geschlossen hat. Wie ich erfahren habe, wurden sie alle kurz nach deiner Verbannung verheiratet. Vermutlich bildet sich dein Vater nun ein, er wäre jetzt stark genug, um die Fehde gegen mich fortzusetzen.«
»Warum hat er mich dann mit dir vermählt?«
»Dazu habe ich ihn gezwungen.«
»Tatsächlich?« rief Sheena erbost. »Wenn er so stark ist, wie du behauptest, hätte er dich bekämpft. Statt dessen hat er deine Forderung erfüllt. Und um meinen Widerstand zu brechen, hat er auf mich eingeredet, bis er blau im Gesicht war. Ich wünschte bei Gott, ich hätte ihm den Gehorsam verweigert.«
»Das wünsche ich mir allmählich auch!« erwiderte Jamie, bevor er aus dem Zimmer stürmte.
32.
Als Sheena am nächsten Morgen erwachte, lag sie allein im Bett. Sie richtete sich auf, mehr konnte und wollte sie nicht tun. Sie saß einfach nur da. Ihre Augen schmerzten, denn sie hatte sich in den Schlaf geweint.
Aber ihre Tränen waren sinnlos. Sie änderten nichts. Und sie hatten ihren Kummer keineswegs erleichtert.
Sie starrte durch das Fenster auf den trüben Wolkenhimmel. Der Tag hatte begonnen, und Jamie war nicht zurückgekehrt. Also war er nach Angusshire geritten. Die MacKinnions griffen immer bei Tageslicht an. Stand er mit seinen Leuten in diesem Augenblick vor Tower Esk?
Gräßliche Bilder von gnadenlosen Kämpfen tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, und sie schüttelte den Kopf, um sie zu verscheuchen. Doch die Bilder verschwanden nicht, und nun glaubte sie auch noch gellende Schreie zu hören. Die Stimmen ihres Vaters und ihres Bruders...
Sie preßte die Hände auf die Ohren, sprang vom Bett auf und begann im Zimmer hin und her zu laufen, aber sie
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