Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
Warmblütigkeit ist hiervon die eindrucksvollste Verkörperung. Mit ihm vollzog sich, etwa zur »Halbzeit der Evolution«, die Emanzipation des Organismus von den Umgebungstemperaturen – der biologische Aufbruch in die Freibeweglichkeit. Von ihr hängt alles ab, was später in den unterschiedlichsten Sinnabschattungen Freiheit heißen wird. Biologisch betrachtet, bedeutet Freiheit das Vermögen, das gesamte Potential spontaner Bewegungen zu aktualisieren, die einem Organismus eigentümlich sind.
    Die Lossagung des warmblütigen Organismus vom Primat des Milieus findet ihr mentales Gegenstück in den thymotischen Regungen der Einzelnen wie der Gruppen. Als moralischer Warmblüter ist der Mensch auf die Aufrechterhaltung eines gewissen internen Selbstachtungsniveaus angewiesen – auch dies setzt eine Tendenz zur Loslösung des »Organismus« vom Vorrang des Milieus in Gang. Wo sich die stolzen Regungen geltend machen, entsteht auf der psychischen Ebene ein Innen-Außen-Gefälle, in dem der Selbstpol naturgemäß den höheren Tonus aufweist. Wer die untechnischen Ausdrucksweisen bevorzugt, kann dieselbe Vorstellung durch die These wiedergeben, die Menschen besäßen einen angeborenen Sinn für Würde und Gerechtigkeit. Dieser Intuition hat jede politische Organisation gemeinsamen Lebens Rechnung zu tragen.
    Zum Betrieb moralisch anspruchsvoller Systeme, alias Kulturen, gehört die Selbststimulierung der Akteure durch die Hebung thymotischer Ressourcen wie Stolz, Ehrgeiz, Geltungswille, Indignationsbereitschaft und Rechtsempfinden. Einheiten dieser Art bilden in ihrem Lebensvollzug lokalspezifische Eigenwerte aus, die bis zum Gebrauch universalistischer Dialekte führen können. Es läßt sich durch empirische Beobachtung schlüssig nachweisen, wie erfolgreicheEnsembles durch einen höheren inneren Tonus in Form gehalten werden – an dem im übrigen häufig der aggressive oder provozierende Stil des Umweltbezugs auffällt. Die Stabilisierung des Eigenwertbewußtseins in einer Gruppe obliegt einem Regelwerk, das die jüngere Kulturtheorie als das Decorum bezeichnet. 20 In Siegerkulturen wird das Decorum verständlicherweise an den polemischen Werten geeicht, denen man die bisherigen Erfolge verdankt. Daher die enge Liaison zwischen Stolz und Sieg in allen aus erfolgreich geführten Kämpfen hervorgegangenen Gemeinwesen. Stolzdynamisch bewegte Gruppen haben es manchmal sogar nicht ungern, bei ihren Nachbarn und Rivalen unbeliebt zu sein, solange das ihrem Souveränitätsgefühl Auftrieb gibt.
    Sobald die Stufe der anfänglichen Interignoranz zwischen mehreren metabolischen Kollektiven überschritten ist, das heißt, wenn die gegenseitige Nichtwahrnehmung ihre Unschuld verloren hat, geraten sie unvermeidlich unter Vergleichsdruck und Beziehungszwang. Dadurch wird eine Dimension erschlossen, die man im weiteren Sinn als die der Außenpolitik bezeichnen kann. Infolge ihres Füreinander-wirklich-Werdens fangen die Kollektive an, sich gegenseitig als koexistierende Größen zu begreifen. Durch Koexistenzbewußtsein werden die Fremden als chronische Stressoren wahrgenommen, und die Beziehungen zu ihnen müssen zu Institutionen ausgebaut werden – in der Regel unter der Form von Konfliktvorbereitungen oder der diplomatischen Bemühung um das Wohlwollen der anderen Seite. Von da an reflektieren die Gruppen ihr eigenes Wertverlangen in den manifesten Wahrnehmungen der anderen. Die Gifte der Nachbarschaft sickern in die aufeinander bezogenen Ensembles ein. Diese moralische Reflexion ineinander hat Hegel mit dem folgenreichen Begriff der Anerkennung bezeichnet. Er weist damit hellsichtig auf eine mächtige Quellevon Satisfaktionen oder Satisfaktionsphantasien hin. Daß er damit zugleich den Ursprung zahlloser Irritationen benannt hat, versteht sich aus der Natur der Sache. Auf dem Feld des Kampfs um Anerkennung wird der Mensch zu dem surrealen Tier, das für einen bunten Fetzen, eine Fahne, einen Kelch sein Leben riskiert.
    Wir sehen im gegebenen Kontext, daß Anerkennung besser als eine Hauptachse interthymotischer Beziehungen neu beschrieben werden sollte. Was die zeitgenössische Sozialphilosophie mit wechselndem Erfolg unter dem Stichwort Intersubjektivität verhandelt hat, meint häufig nichts anderes als das Gegeneinanderwirken und Ineinanderspielen von thymotischen Spannungszentren. Wo der landläufige Intersubjektivismus die Transaktionen zwischen Akteuren in psychoanalytischen und somit letztlich erotodynamischen

Weitere Kostenlose Bücher