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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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die ihnen einen vitalen Platz im Weltgeschehen anweisen. In dieser Situation
     legt sich der Rückgang auf ethnische oder subkulturelle Geschichtserfindungen nahe. Sind solche nicht verfügbar, treten lokale Wir-Sie-Konstruktionen an
     ihre Stelle. Sofern die Unzufriedenen der Postmoderne ihre Affekte nicht auf anderen Schauplätzen abreagieren können, bleibt ihnen nur die Flucht ins
     eigene Spiegelbild, wie es die Massenmedien liefern, sobald Gewaltszenen einen Teil des öffentlichen Interesses auf sichziehen. Die schnelle Spiegelung von selbstverübten Exzessen in Presse- und Fernsehbildern mag für die Akteure eine momentane Befriedigung mit sich bringen, in manchen Fällen kann sie sogar eine Art von genugtuendem Existenzbeweis bedeuten. Doch setzt sich gerade in solchen Episoden das Gesetz des Mediums gegen die Inhalte durch. Hier zeigt sich einmal mehr, daß die Instrumente der »bürgerlichen Öffentlichkeit« nicht als Kollektoren beziehungsweise als Sammlungs- und Bildungsmedien für thymotische Subjekte in spe fungieren können (das heißt, sie sind außerstande, die Umwandlung von Zorn in Stolz und Hoffnung zu moderieren). Unzweifelhaft kommt den modernen Massenmedien das Potential zu, affektive Epidemien auszulösen – alle schlagzeilenfähigen Themen breiten sich, wie man weiß, nach dem Prinzip der viralen Infektion aus. Zugleich neutralisieren sie ihre Stoffe, um sämtliche Vorkommnisse dem Gesetz der Vergleichgültigung zu unterwerfen. Es ist ihre demokratische Mission, Indifferenz zu erzeugen, indem sie den Unterschied zwischen Hauptsachen und Nebensachen auslöschen.
    Schließlich ist ein viertes Motiv für die politische Regression der linken Zornkultur zu nennen – es ergibt sich aus der schon wiederholt erwähnten Konversion der geldgeprägten Zivilisation zum Primat der Erotik. Das neue Liebesgebot schreibt vor, die Güter, die dein Nachbar genießt, zu lieben, als könnten sie die deinen werden. Offensichtlich ist dieses extensive Gebot des Genießens kaum einfacher zu befolgen als das christliche Gebot der extensiven Nächstenliebe. Der Erotisierungsdruck, der auf den zum Begehren verdammten Mitspielern der gierdynamischen »Gesellschaft« lastet, führt unvermeidlich dazu, daß sich immer mehr aufgereizte und isolierte Einzelne von unmöglichen Beziehungsangeboten umzingelt sehen. Aus chronischen Liebeszumutungen, die mangels innerer und äußerer Zugangsmittel im Scheitern enden müssen, geht eine Neigung zum Haß gegen alles hervor,was zu dem Belagerungsring aus Pseudoobjekten gehört. Während die kollektiven Affektsysteme im Rahmen der postmodernen Ironisierungen von Revolte auf Mitmachen umstellen, werden die dissidenten, zornigen, revoltischen Regungen, sozial isoliert und sprachlich verarmt, von einer Tendenz zur Abstumpfung erfaßt. In dieser Lage drängt sich die vandalische Beziehung zu den unmöglichen Objekten als die plausibelste auf. Man könnte den Vandalismus als Negativität der dummen Kerle bezeichnen und damit einen Zorn charakterisieren, der es endgültig aufgegeben hat, die Einsicht zu suchen.
    Bei keinen Vorgängen der jüngeren Vergangenheit haben sich die hier beschriebenen Mechanismen expliziter manifestiert als den Pariser Banlieue -Unruhen, die im späten Oktober 2005 aufflammten, um sich, den Spielregeln der medial belohnten Gewaltnachahmung gemäß, binnen weniger Tage über zahlreiche Städte oder städtische Agglomerationen Frankreichs auszubreiten. Ganz offensichtlich handelte es sich bei den unerwarteten Gewaltexplosionen einer Gruppe von ausschließlich männlichen Jugendlichen islamisch-arabischer und christlich-afrikanischer Herkunft um ein Gemisch aus Abreaktionskrawallen und provokativem Spaßvandalismus – mithin genau um den Affektcocktail, mit dem die politische Hermeneutik der hegemonialen französischen Mitte-Links-Kultur schlechterdings nichts anfangen kann. Folglich begnügte sich das Pariser Feuilleton damit, die auf dem Markt befindlichen Sprachspiele abzurufen, denen jeder Anlaß zum Selbstzitat recht ist. (»Sie setzen Autos in Brand – wir spielen unsere Lieblingstheorien«.)
    Unübersehbar war bei alledem nur eines: daß keine der politischen Parteien sich als Sammlerin und Verwandlerin der emergenten schmutzigen Energien zur Verfügung stellen konnte und wollte. Zwar waren vage Bekenntnisse zu den Obliegenheiten der republikanischen Pädagogik zu hören,jedoch nichts, was auf eine neue Strategie der politischen Fruchtbarmachung des

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