Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
gefährlichen Effekte der beiden Enthemmungsgebote zu kompensieren, muß das abschließende dritte Gebot fordern: Du sollst eventuelle Nicht-Erfolge beim Wettbewerb um den Zugang zu Objekten des Begehrens und Privilegien des Genießens niemand Anderem zuschreiben als dir selbst!
Zerstreute Dissidenz –
Die misanthropische Internationale
Die bisherigen Überlegungen präsentieren einige Voraussetzungen für die augenfällige Nicht-Sammelbarkeit und Nicht-Organisierbarkeit der aktuellen Zorn- und Dissidenzquanten in den Kernländern des neo-kapitalistischen way of life . Die wichtigste hiervon ist summarisch bereits mehrfach genannt worden: Es sind im Horizont der Gegenwart keine Bewegungen und Parteien sichtbar, denen erneut die Funktionen einer Weltbank für die utopisch-prophetische Verwertung thymotischer Regungen zufallen könnte. Mangels einer operativ erfolgreichen Zornsammelstelle mit einer verbindlichen Was-tun?-Perspektive fehlt es zugleich an den Theorie-Standpunkten, von denen aus Lagebesprechungen über wahrhaft globale Angelegenheiten stattfinden könnten. Obschon seit Jahren eine Flut von moralisierenden Aussagen über die sogenannte Globalisierung die Öffentlichkeit des Westens und der Schwellenländer überschwemmt, ergibt sich aus der Summe der Diskurse nicht die Spur eines neuen »Organons« – es sei denn, man will die weltsoziologischen Abteilungen des Pentagons sowie die Stäbe, die mit dem sogenannten war on terror befaßt sind, als ein solches gelten lassen. Den gleichen Umstand bringt die These auf den Punkt, daß es zur Stunde keine popularisierbaren Formen positiver Apokalyptik gibt, die imstande wären, den potentiellenZusammenbruch der gegenwärtig erfolgreichen Sozial-und Wirtschaftssysteme in attraktive Visionen für die Zeit danach zu übersetzen. Weder in Davos noch in Porto Allegre war in den vergangenen Jahren glaubhaft von postkapitalistischen Modellen die Rede. Anders ausgedrückt beweist das nur: Der Kapitalismus will von jetzt an die ganze Kultur sein. Damit setzt er sich selbst als den unüberschreitbaren Horizont der Gegenwart. Was auf ihn folgt, kann seinem Selbstverständnis nach immer wieder nur er selber in seinen rastlosen Metamorphosen und euphorischen Steigerungen sein. Allein die Diskurse der Solarbewegung und verwandter antisystemischer Ansätze enthalten Projektionen von einiger zeitlicher Tiefe, die dem dominierenden System aufgrund seiner Abhängigkeit von den demnächst oder später erschöpften fossilen Energien ein unvermeidliches Ende vor Augen stellen. Manche von ihnen benennen nur die Gründe, die den Übergang in ein post-fossilenergetisches Regime nötig machen, andere dringen bis zu einem Horizont jenseits der Kapitalwirtschaft vor. 17
Auch den zweiten Hauptgrund für die Entwertung der zornhaften Impulse im Affekthaushalt der kapitalistischen Demokratien haben wir, zumindest auf indirekte Weise, bereits berührt: Er ist in der Tatsache zu suchen, daß die zeitgenössischen Verhältnisse der Tendenz nach den meisten Varianten von fundamentalistischem Denken das Wasser abgraben – einschließlich der junghegelianischen Figuren, die sich selbst als praktische Verwirklichungen eines »an die Wurzel gehenden« Denkens präsentierten. Sämtliche Formen vonTheorie mit Bart sind aus dem Kanon der Gegenwart ausgeschlossen worden. Die typischen Barttheorien waren jene, die zwar die Weltbilder ihrer Gegner ideologiekritisch kommentierten (und insoweit auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung operierten), jedoch in eigener Sache weiter naive Weltsemantiken verwendeten – hierin den krudesten Glaubenssystemen vergleichbar. Sie stifteten den Zusammenhang zwischen Thymotik und Extremismus einerseits, Extremismus und Monologdenken andererseits. 18 Wenn unter solchen Bedingungen der Zorn die Einsicht nicht finden kann, ist das nur für jene überraschend, die selbst ins Geschäft mit der Naivität investiert haben.
Ein dritter Grund für die Diffusion der Zorn- und Protestpotentiale ist in der Veränderung ihrer Sammlungsmedien und ihrer organisierenden Mythen zu
finden. Während für klassenbewußte Proletarier des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts bereits die Möglichkeit bestand, lokale Leiden und Kämpfe in
das Epos der Arbeiterbewegung, vielleicht sogar in die große Erzählung vom Advent der Revolution zu integrieren, verfügen die heutigen Zornträger über
keine orientierungsmächtigen Szenarien, keine überzeugenden Narrative mehr,
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