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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Markt des Aussehens zum Markt aller Märkte auf – in ihm werden potentielle Objekte des Begehrens durch Berührung mit der Droge Überbelohnung zu Giersubjekten umgewandelt. Es ist leicht begreiflich, wieso die letzte »Klassenspaltung« im Kapitalismus die zwischen den Überbelohnten und den normal oder schlecht Bezahlten sein wird. Etwas anspruchsvoller ist die Einsicht, warum diese Spaltung ungefähr gleichbedeutend wird mit dem Gegensatz zwischen den beautiful people und den Leuten mit Gesichtern, die nichts einbringen. Will man die Bedeutung des Wortes »Volk« im avancierten Kapitalismus definieren, stößt man auf die Menge derer, die von der Überbelohnung ausgeschlossen bleiben. Volk ist, was sicher sein darf, auch in Zukunft für bloße Erscheinung nichts zu bekommen.
    Die Eliten der Gier bekennen sich durch ihr Verhalten zu dem Postulat, im Seienden müsse das Potential zu permanenten Gewinnspielen angelegt sein – zumindest zu hinreichend langen Erfolgsphasen, um die Vorteilsnehmer für den Rest ihres Lebens mit Überschüssen auszustatten. In der Regel wird akute Gier von der Empfindung begleitet, mehr Glück zu verdienen, als man bisher erlebt hat – einer der Gründe, warum für giergetriebene Aktivitäten keine internen Grenzen anzugeben sind. Nur sehr wenige Aspiranten der Fortuna dürften im Lauf der kapitalistischen Jahrhunderte bereit gewesen sein, mit Andrew Carnegie zu konstatieren: »Ich habe viel mehr Glück im Leben gehabt, als mir zukam.« 12
    In Hinsicht auf die unglücklichen Albaner und ihre Initiation in den Geist des spekulativen Kapitalismus ist zu notieren, daß sie aufs Ganze gesehen von Glück im Unglück sprechen konnten. Ihre Verluste stellten sich, trotz der rund zwanzigtausend Bankrotte kleinerer Firmen im ganzen Land, nach dem Abklingen der Krise viel undramatischer dar, als man im ersten Affekt befürchtet hatte. Den Davongekommenen blieb die Lektion eingebrannt, wonach die eigentumswirtschaftliche Restrukturierung einer vormaligen Kommandowirtschaft nicht über die bloße Spekulation erfolgen kann. Sie lernten, was für Veteranen des Kapitalismus eine vertraute Tatsache ist: Die alltägliche Wertschöpfung besitzt eine Trägheit eigenen Typs, die man nicht ungestraft überfliegen darf. Wer Vermögen bilden will, muß in der Regel doch eine Weile arbeiten und verzichten. Sosehr der Traum vom schnellen Reichtum für die Antriebsdynamik des Kapitalismus unentbehrlich ist, setzt dieser zunächst eine reguläre Unternehmenskultur sowie eine disziplinierte Arbeitswelt voraus, die sich den Mühen der nur ein wenig schiefen Ebene unterzieht.
    Wie bemerkt, ist der reguläre Kapitalismus, der sich mit realwirtschaftlich konsolidierbaren Profitraten zu begnügen weiß, durch die Spannung zwischen Zinslast und Produktivitätssteigerung geprägt – unter Einbeziehung sämtlicher psychopolitischer Faktoren, ohne deren Modifikation die Verwandlung einer gegebenen Population in eine Assoziation von nachfragefähigen Konsumenten nicht gelingt. Wenn die Pyramidenkrisen im Osten und Süden Europas auf eine akute Gierpsychose zurückzuführen waren – mithin auf eine jähe und grobe Erotisierung der Affekthaushalte –, mußten während der folgenden Konsolidierungsphase tiefer ansetzende, diskrete und chronisch wirksame Formen von Erotisierung der »Gesellschaft« zur Geltung gebracht werden.
    Wir begreifen inzwischen, wieso die psychodynamischeModernisierung geldbewegter »Gesellschaften« das Antlitz der Erotik trägt: Es steht in der ökonomischen Moderne nicht weniger auf der Tagesordnung als die Ablösung der (nur scheinbar archaischen) thymotischen Affektsteuerung mitsamt ihren (nur scheinbar irrationalen) markt-inkompatiblen Aspekten durch die zeitgemäßere Psychopolitik der Begehrensnachahmung und der rechnenden Gier. Diese Umwandlung ist nicht zu erreichen ohne eine weitreichende Entpolitisierung der Populationen – und damit verbunden: ohne den fortschreitenden Bedeutungsverlust der Sprache zugunsten von Bild und Zahl. Vor allem die klassischen Linksparteien, sofern sie per se als Zorn- und Dissidenzbanken tätig sind, müssen in diesem neuen Klima als dysfunktionale Relikte auffallen. Sie sind dazu verurteilt, in häßlichen Reden gegen Bilder von schönen Leuten und Tabellen mit harten Zahlen anzukämpfen – ein aussichtsloses Unternehmen. Hingegen bewegen sich modernisierte Sozialdemokratien à la New Labour im Element der kapitalistischen Erotik wie Fische im Wasser –

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