Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sie haben sich als Stolz- und Zornparteien abgemeldet und die Wende zum Vorrang der Appetite mitvollzogen. Den post-kommunistischen Nationen wird durch den Einbruch der westlich vorgeformten Bildkultur ein Illusionendepot zur Verfügung gestellt, das zugleich das erotische Begehren und den Sinn für die Notwendigkeit des Wartens anspricht.
Im Lauf der Transformation kommt es zu einer moralgeschichtlich singulären Stimulierung von Wunschrivalitäten zwischen den Teilnehmern an den generalisierten Begehrensspielen. In den westlichen Populationen zog sich der Strukturwandel des Begehrens über Jahrhunderte hin – mit einer deutlichen Beschleunigung im 19. Jahrhundert. Wenn man diese Epoche kulturgeschichtlich als das Jahrhundert der Operette charakterisierte, so deshalb, weil die von Zeitgeist geforderte Erotisierung des Bürgertums und Kleinbürgertums sich in dieser Gattung ihr effektivstes Medium geschaffenhatte. 13 Zwar haben bereits die höfischen und die frühbürgerlichen »Gesellschafts«ordnungen Rivalitätsschübe hervorgerufen und zwischen den Teilnehmern an Hofintrigen und Leitern von Handelsunternehmen heftige Wettbewerbe ausgelöst. Beides waren Aktionssysteme, die schon von der emotionalen »Modernisierung«, namentlich von der Verdichtung des Verkehrs und einer entsprechenden Intensivierung der liaisons dangéreuses , das heißt der strategischen Interaktionen, geprägt waren. Noch in keiner historischen Formation jedoch wurde ein so hohes Maß an gier- und neidgesteuerter Konkurrenz benötigt wie in der entfalteten »Gesellschaft« des Massenkonsums, die sich – nach einem mehr als hundertjährigen Präludium – während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an vielen Orten der Erde nach euro-amerikanischen Mustern triumphal ausgebreitet hat.
Bei diesen Vorgängen zeigt sich, daß alle Modernisierungen auf eine mehr oder weniger dramatische Revision der seit der Antike verbindlichen Moral
hinauslaufen. Weil die Systeme von heute nicht kämpfende Kollektive, sondern erotisierte Populationen zur Voraussetzung haben, verzichten sie darauf,
weiter die Aufhebung des alttestamentlichen fünften Gebots zu fordern – eines der prägenden Merkmale des Linksfaschismus, wie gezeigt wurde, das im
Nationalsozialismus wiederkehrte. Diese beiden Formationen thymotischer Affektmodellierung verlangten resolute Kämpfer und gebärfreudige Mütter, nicht
ambitionierte Liebhaber und Luxuskonsumentinnen – tatsächlich sangen britische Anhänger der Kommunistischen Internationale in den dreißiger Jahren ein
Lied zu dem Text: »Laßt uns Schluß machen mit der Liebe bis zur Revolution / bis dann ist die Liebe ein unbolschewistisches Ding.« 14 Der Primat der kämpferischenWerte war für die Aktivisten eine ausgemachte Sache, indessen der Eros unter der verächtlichen Rubrik »bürgerlicher Luxus« figurierte. Solange das Töten Vorrang hatte vor dem Lieben, richtete sich der Geist der Revision vor allem gegen das fünfte Gebot. 15
In der avancierten Konsumsphäre hingegen werden Lieben, Wünschen und Genießen zur ersten Bürgerpflicht. Jetzt sind es vielmehr die Abstinenzvorschriften und die anti-mimetischen Eifersuchtsverbote des Dekalogs, die zeitgemäß einzuklammern und durch ihre Umkehrungen zu ersetzen sind. Hatte das zehnte Gebot gelautet: »Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin …!« ( Exodus 20, 17), formuliert das erste Gebot des herrschenden neuen moralischen Systems: Du sollst begehren und genießen, was auch immer dir durch genießende Andere als begehrenswertes Gut gezeigt wird! Daraus folgt unmittelbar das zweite Gebot, das die Wirkungen des ersten verstärken soll. Es ist ein Exhibitionsgebot, das, in diametralem Gegensatz zu den Diskretionsvorschriften der Tradition, die offene, auf Nachahmungserregung zielende Zurschaustellung des persönlichen Genießens zur Norm erhebt. 16 Du sollst aus deinem Begehren und Genießen kein Geheimnis machen! Es wäre kurzsichtig, zu meinen, die Wirkungen des Prinzips Exhibition seien auf die Welt der Reklame und der Nachtclubs beschränkt – in Wahrheit ist die Realitätskonstruktion des subjektivierten Kapitalismus insgesamt auf Wettbewerben um Sichtbarkeit aufgebaut. Sichtbarkeit bezeichnet die Spielräume für die Stimulationvon Eifersuchtsimpulsen – Warenwelt, Geldwelt, Wissenswelt, Sportwelt, Kunstwelt durchgreifend. Um die
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