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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Zorns hindeutete. Als hellhöriger Interpret der psychopolitischen Lage zeichnete sich allein der Innenminister Nicolas Sarkozy aus: Indem er die Randalierer unverblümt als »Gesindel« ( racaille ) bezeichnete, das man mit dem Hochdruckreiniger wegschwemmen müsse, brach er nicht nur mit den Regeln des politischen beau parler ; er machte klar, dem Empfinden der neuen moralischen Mehrheit im Land zufolge seien für diesmal keine integrationspolitischen Bemühungen mehr an der Tagesordnung, sondern kompromißlose Eliminierungsverfahren. Möglicherweise ist durch diesen verbalen Ausfall ein zukunftsträchtiges Paradigma politischer Semantik aus der Taufe gehoben worden. Die Vorsprecher der rechten Mitte hätten demnach den postrepublikanischen Imperativ begriffen, nach welchem Politik nichts anderes mehr bedeuten soll als ein System von Maßnahmen des militanten Verbraucherschutzes. Auf der rhetorischen Ebene scheint die Umstellung von Sozialtherapie auf Entsorgung der Überflüssigen unmißverständlich vorformuliert – sie bringt ein aktuelles Einverständnis zwischen dem Angstkonservatismus breiterer Schichten und dem neoliberalen Härteprinzip der Vermögenseliten zum Ausdruck. Dieser Allianz steht eine Linke gegenüber, die weder in ihrer nachkommunistischen noch ihrer sozialdemokratischen Form imstande ist, angemessene Verfahren der Zornsammlung und ihrer Investition in thymotisch gewinnbringende Projekte zu entwickeln. 19
    Die Schwäche der kursierenden ad hoc -Erklärungen für die unerwarteten Gewaltausbrüche in Frankreich zeigt sichin erster Linie darin, daß man in ihnen meistens bloß momenthafte Ausdruckshandlungen sehen wollte – wobei die Deutungen des ausdrucksuchenden Affektgrunds stark variierten: Sie reichten, je nach der Neigung des Interpreten, von hilfloser Wut über das Ausagieren von Impulsen der Rache für chronische Demütigung bis hin zur Manifestation einer puren »Lust am Bösen«. Nicht weniger irreführend ist die von manchen Politikern der Rechten aufgebrachte Unterstellung, es habe sich bei den Brandstiftungen an Fahrzeugen und Gebäuden sowie anderen Akten des Vandalismus um geplante, wenn nicht sogar gelenkte Aktionen gehandelt.
    In Wahrheit ging das Anschwellen der Gewaltwelle auf eine okkasionelle Zornobjektbildung zurück, die durch eine stimulierende Rückkoppelung in den französischen Massenmedien mit hohen Aufmerksamkeitsprämien und Nachahmungsreizen belohnt wurde. Der Auslöser lag, soweit die aktuellen Rekonstruktionen der Vorgänge in der kritischen Nacht triftig sind, in der blitzartigen Ausbreitung eines Gerüchts, nach welchem die Polizei am 27. Oktober 2005 zwei Vorstadt-Jugendliche in den Tod getrieben habe. Diese Suggestion (sie stellte sich als Halbwahrheit heraus, denn es gab keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Tod der jungen Männer und polizeilichen Verfolgungen) genügte, um bei zahlreichen Jugendlichen am Ort des Geschehens ein primitives Wir-Sie-Szenario zu evozieren. Dieses griff rasch auf zahlreiche andere Orte über. Auf der Sie-Seite fanden sich naturgemäß die staatliche Polizei, begreiflicherweise auch der wortgewaltige Innenminister und ein konfuser Komplex aus Personen, Symbolen und Institutionen, in denen sich für diese männlichen Immigrantenkinder die Fremdheit und Feindlichkeit der französischen Umwelt kondensierte.
    Die Formierung eines negativen Objekts war trotz ihrer Vagheit ausreichend artikuliert, um für die Dauer einiger Wochen bei zahlreichen Jugendlichen die Vorstellung einer real bespielbaren Kampfszene hervorzurufen. Im Lauf derAusschreitungen auf den Straßen von Clichy-sous-Bois, Le Blanc Mesnil, Aulnay-sous-Bois usw. vollzog sich eine Art von szenisch-theatralischer Sammlung mit hoher Anziehungskraft, obwohl, soweit erkennbar, nirgendwo eine politische Regie Anweisungen gab. Eine angemessene Interpretation dieses Phänomens übersteigt die Reichweite gewöhnlicher Soziologien; eher hat es den Anschein, als wären schwarm-logische, mediologische und mimetologische Beschreibungen imstande, den Rhythmus der Ereignisse zu durchleuchten. Entscheidend für die rapide Eskalation der Welle war jedenfalls, daß die typische Handlung auf der Kampfszene, das Anzünden von zufällig dastehenden Autos, ein seit längerem habitualisiertes Muster darstellte, um nicht von einem Ritual mit initiatischen Qualitäten zu sprechen. Durch den starken Zustrom neuer Mitspieler geriet dieses Muster einer Kommunion durch Zerstörung mit einem Mal

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