Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
worden war, nahm sie Zuflucht bei einer Bande von Räubern und entwickelte mit ihnen gemeinsam den Plan, ihr Dorf zu überfallen, um die Schuldigen zu liquidieren. Die Leiche ihres Mannes soll auf einen Esel gebunden worden sein, den man durchs Dorf trieb. Das einfache Volk feierte die Rebellin als Emanzipationsheldin und sah in ihr einen Avatar der grausam-erhabenen Göttin Durga Kali. Das Photo, das Phoolan DevisÜbergabe der Waffen an indische Ordnungskräfte zeigt, gehört zu den archetypischen Pressebildern des 20. Jahrhunderts. Man sieht darauf die junge Kämpferin, die sich mit all ihrer konzentrierten Wut einem offenen Schicksal überläßt. Nach elfjähriger Haft ohne Prozeß wurde die Bandit Queen begnadigt, sodann ins indische Parlament gewählt, wo sie zahllosen entrechteten Frauen ihres Landes als eine begeisternde Bezugsfigur diente. Im Juli 2001 wurde sie in Delhi auf offener Straße erschossen, vermutlich von einem Verwandten eines ihrer getöteten Vergewaltiger. Schon zu ihren Lebzeiten griff die Folklore die Geschichte der charismatischen Gestalt auf und machte aus Phoolan Devi die Heldin eines Volksepos, das noch heute von indischen Rhapsoden in den Dörfern gesungen wird.
Nur selten können die archaische und die moderne Deutung des rächerischen Zorns in einer einzigen Handlung so direkt aneinander rühren. Wir wollen im folgenden der Vermutung nachgehen, daß der Roman der Rache im Gang der Modernisierung immer häufiger aus dem literarischen und ideologischen Modus in das Leben der einzelnen und der öffentlichen Wahrnehmung zurückkehrt. Ein suggestives Beispiel hierfür, das jüngst das Publikum in Deutschland, der Schweiz und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bewegte, lieferte der Fall des Ingenieurs Vitalij K. aus der Kaukasusrepublik Ossetien, der bei einem durch menschliches Mitverschulden bedingten Flugzeugabsturz seine Frau und seine zwei Kinder verloren hatte und nach mehr als einem Jahr exzessiver Trauer beschloß, als Rächer seiner Familie selbst zur Tat zu schreiten.
Am 1. Juli 2002 war eine baschkirische Passagiermaschine, aus Moskau kommend, in 11.000 Metern Höhe über dem Bodensee mit einem DHL -Frachtflugzeug kollidiert und bei der Ortschaft Owingen abgestürzt, wobei alle 71 Insassen ihr Leben verloren. Das Unglück ereignete sich unter anderem aufgrund einer falschen Anweisung des Flugüberwachungszentrumsin Zürich-Kloten. Als der diensthabende Lotse bemerkte, daß die beiden Maschinen auf Kollisionskurs waren, gab er dem Piloten des russischen Flugzeugs mündlich die Anweisung, sofort den Sinkflug einzuleiten, während die Bordelektronik der Maschine den Befehl anzeigte zu steigen. Da der russische Kapitän der mündlichen Anweisung die höhere Autorität zubilligte, indessen die DHL -Maschine dem elektronischen Steuerungsbefehl gemäß ebenfalls nach unten auswich, kam es zu dem fatalen Zusammenstoß. Den Feuerball am Himmel über dem Bodensee haben Zeugen noch aus 150 Kilometern Entfernung beobachtet. Am 24. Februar 2003, anderthalb Jahre nach dem Unfall, erschien der 1956 geborene Mann aus Ossetien, der in seiner Heimat eher zu den Gewinnern der post-kommunistischen Situation rechnen konnte, am Wohnsitz des dänischen Fluglotsen bei Zürich und tötete ihn auf der Terrasse seines Hauses durch zahlreiche Messerstiche.
Schon vor dem Drama im Februar 2003 war der spätere Täter dadurch aufgefallen, daß er sich gelegentlich auf »kaukasische Methoden« der Konfliktregelung berief. Für die Tat war offensichtlich nicht nur die exzessive Trauer des Mannes verantwortlich, sondern mehr noch die Umwandlung der Trauerarbeit in eine Art Rachearbeit. Zu dieser gehörte der Schuldspruch gegen den Fluglotsen am Ende eines kurzen Prozesses vor dem Gerichtshof der eigenen Intuition; der Spruch wurde ergänzt durch eine Idee von Strafe, bei welcher der Richter in die Rolle des Henkers wechselt. Hiermit erwies sich der Täter als Rezipient eines Handlungsmusters, das seit dem Beginn der Moderne das öffentliche Bewußtsein mehr und mehr durchdringt. Es überrascht nicht, daß die russische Öffentlichkeit an dem Prozeß gegen Vitalij K. im Oktober 2005 in Zürich leidenschaftlich Anteil nahm und gegen das Urteil, das auf acht Jahre Haft lautete, heftig protestierte. Der Rächer war in seiner Heimat wie in weiten Teilen der ehemaligen Sowjetunion zum Volkshelden aufgestiegenund diente großen Teilen der Bevölkerung als Objekt der Einfühlung und Identifikation.
Man kann aus
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