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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Fällen wie dem geschilderten den Schluß ziehen, daß rächerische Impulse nicht ohne weiteres ins Reale zurückkehren, solange nicht eine kulturelle Codierung die Bahnungen hierfür geschaffen hat. Von einer Rückkehr, sogar von einer Regression ist zu sprechen, sofern solche Akte sich nicht mehr auf den offiziellen Kulturkontext berufen können: Die Zeit des tribalen Blutrachegebots liegt ideengeschichtlich, obschon nicht überall sittengeschichtlich, um zwei Jahrtausende oder mehr zurück. Das Gewaltmonopol des modernen Staats wird von der großen Mehrheit der Bürger als psychopolitische Norm akzeptiert und von der offiziellen Pädagogik so gut wie ohne Einwände unterstützt. Dennoch läßt sich nicht verkennen, welchen Raum das massenmediale Imaginäre dem Phantasma des moralischen Ausnahmezustands, samt seiner rächerischen Bewältigung, zugesteht.
    Um die Rückkehr der agierten Rache plausibel zu machen, muß angenommen werden, daß die Ordnungskraft der politischen und juristischen Zivilisation selbst in Verruf geraten ist. Wo die öffentliche Ordnung im Verdacht steht, zu versagen oder mit den Mißständen verschworen zu sein (exemplarisch hierfür: der Vorwurf der Klassenjustiz), können die Einzelnen sich dazu berufen fühlen, als wilde Richter in ungerechter Zeit das bessere Gesetz zu vertreten. In dieser Hinsicht läßt sich die moderne Racheromantik als Teilbewegung einer umfassenderen Rückwendung zum Heroismus verstehen. Ein Held ist in antiker Zeit, nach Hegels Einsicht, wer als Einzelner schon das Notwendige tut, das vom Allgemeinen noch nicht geleistet werden kann; die Neo-Heroik der Modernen lebt von der Intuition, daß auch nach der Aufrichtung von Staatlichkeit Situationen auftreten, in denen das Allgemeine nicht mehr operativ ist. Daß selbst derStaat beziehungsweise staatliche Führungen von neo-heroischen und rache-romantischen Reflexen bestimmt werden können, verrät der Fall der israelischen Staatspräsidentin Golda Meïr, die nach dem Überfall palästinensischer Attentäter auf das Quartier der israelischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München 1972 den Geheimdienst Mossad beauftragt haben soll, die Täter und ihre Hintermänner aufzuspüren und ohne Prozeß zu liquidieren. Diese Operation (Codename »Zorn Gottes«) bewegte sich weniger auf dem Boden der Staatsräson als auf dem des massenkulturellen Imaginären. In der Tat befürwortet die Massenkultur seit langem die Übergabe der Akten des Jüngsten Gerichts in menschliche Treuhandschaft. 4
    Mit dem populär-anarchistischen Zweifel an der Ordnungsleistung der »bestehenden Verhältnisse« verbindet sich nicht nur die Tendenz zum neo-heroischen
     Agieren. Aus ihm folgt auch die Unterstellung eines permanenten Ausnahmezustands – und eo ipso die Neigung der Akteure, für sich selbst in ihren
     singulären Situationen das Recht zur Selbsthilfe in Anspruch zu nehmen. Tatsächlich haben manche Theoretiker der Linken, namentlich Walter Benjamin, dann
     wieder Antonio Negri, die gefährliche Suggestion entwickelt, für die Mehrheit der Menschen »unter dem Kapital« sei der permanente Ausnahmezustand der
     normale. Ist die »Ordnung der Dinge« erst einmal delegitimiert, legen sich Improvisationen nahe, darunter solche der groben Hand. Von der
     politisch-moralischen Delegitimierung der Verhältnisse ist es nur ein Schritt zu ihrer ontologischen Delegitimierung, kraft welcher nicht nur den
     Institutionen des ancien régime , sondern den Vermächtnissen der Vergangenheit insgesamt der normative Boden entzogen wird. Ist dieser Moment
     eingetreten, wird das sogenannte Bestehende im ganzen zur Revision, notfalls zur Demolierung freigegeben. Angesichtsdessen wäre die von Sartre redigierte Militanzformel des 20. Jahrhunderts, on a raison de se révolter , ein wenig anders als üblich zu übersetzen: Nicht wer sich gegen das Bestehende auflehnt, hat recht, sondern wer sich an ihm rächt.
    Im Blick auf die Implikationen der rächerischen Ausnahmezustände soll unsere Untersuchung zunächst der Frage nachgehen, auf welche Weise die Transformation des akuten Zorns in praktizierte Rache zu denken sei – und unter welchen Bedingungen der Rohstoff Zorn zu höherwertigen Produkten verarbeitet wird, bis auf die Ebene von »Programmen«, die weltpolitische Bedeutung beanspruchen. Bei der Nachzeichnung dieser Vorgänge kommen die Umrisse einer elaborierten Zornwirtschaft ans Licht.

Der Aggressor als Geber
    Die Analyse des Zorns wendet

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