Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sich in einer ersten Phase dessen energetischer Seite zu, um in den folgenden Schritten auf seine temporalen und pragmatischen Aspekte einzugehen. Das verlangt eine gewisse Askese gegenüber alltäglich eingespielten Reaktionen und erlernten Deutungsmustern. Man muß zunächst die Neigung einklammern, am Zorn vor allem die zerstörerische Dynamik zu betonen. Allenfalls wäre der Begriff »Zerstörung« von jeder moralischen Wertung auszunehmen und als eine Art Stoffwechselphänomen anzusetzen, das jenseits von Lob und Tadel zur Untersuchung kommt. Auch darf die angebliche oder wirkliche Neigung des Zorns zu zukunftsblinder Entladung nicht verfrüht in den Vordergrund gerückt werden. Schließlich wird man die gewöhnlichen psychologischen Motivunterstellungen und Charakterdiagnosen bis auf weiteres auf sich beruhen lassen.
Dank dieser Abstinenz stellt sich eine ruhigere Sicht auf das Zorngeschehen ein. Sie nimmt zur Kenntnis, daß es sich in erster Linie um eine intensive Form der Energiebereitstellungund der Energieübertragung handelt. Läßt man sich vom Bild der Efferveszenz leiten, das schon die alten Autoren dazu brachte, vom furor , von Aufbrausen und Vorwärtsstürzen, zu sprechen, so zeigt sich, wie sehr der Zornausdruck einen gebenden, ja einen paradox generösen Zug besitzt. Als pure Extraversion fügt der rückhaltlos ausgedrückte, »aufschäumende« Zorn dem Bestand der Welttatsachen äußerst energiereiche Ergänzungen hinzu. Naturgemäß zeigen sich diese zumeist in einem negativen Licht, da sie auf den ersten Blick nur aus Lärm und Leid zu bestehen scheinen. Man wird des gebenden Zugs im Zorngeschehen leichter gewahr, wenn man das Zornsubjekt unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit einem Spender betrachtet.
Der Zorn, gleich ob er explosiv-momenthaft auftritt oder chronisch-weitsichtig (nach seiner haßbewirkten Verwandlung in ein Projekt), schöpft aus einem Überschuß an Energie, die nach konzentrierter Verausgabung strebt. Dem sich in strafenden oder verletzenden Akten entladenden Zorn wohnt oft die Überzeugung inne, es gebe in der Welt, lokal oder global, zu wenig Leiden. Dieses Zuwenig folgt aus dem Urteil, wonach gewisse Personen, auch Kollektive, in bestimmten Situationen Leiden »verdient«, aber nicht erhalten haben. Bei solchen zu Unrecht Leidlosen entdeckt der Träger des Zorns seine überzeugendsten Ziele. Nie wird er sich damit abfinden, daß der Schmerz bis zur Unerträglichkeit ungleich verteilt ist. Von dem Zuviel, das sich bei ihm selber angehäuft hat, will er einen fairen Anteil an den unbestraften Verursacher zurückgeben. Er ist durchdrungen von der Gewißheit, die Schmerzlosen existierten in einem Zustand akuter Mangelhaftigkeit – zu ihrer Vollständigkeit fehlt ihnen das Leiden. Der Anblick von Unverletzten und Unbestraften weckt im Zornigen die Vorstellung, er besitze, was diesen abgeht. Im Blick auf sie will er zum Geber, zum Verschwender werden – selbst wenn er den Empfängern seine Gaben aufnötigen muß. Deren Habitus, die Annahme zuverweigern, liefert dem Zorn und dem Haß ein zusätzliches Motiv, sich an die Angesprochenen zu wenden.
Unverkennbar liegt hier eine Verknüpfung zwischen Zorn und Stolz vor, dank welcher das Zürnen sich selbst ein moralisches Legitimitätszeugnis ausstellt. Je höher der Stolzfaktor im Zorn ausfällt, desto wirkungsvoller geht das »Du darfst« in das »Du sollst« über. Das vollendet motivierte Zornhandeln wäre darum dasjenige, das sich selber als Ausführung einer unverzichtbaren und noblen Notwendigkeit empfindet. Deren empirische Muster bieten die Rachemorde auf dem familialen, die Religions- und Befreiungskriege auf dem ethnischen und nationalen Niveau.
Der Zornträger besitzt, wie bemerkt, die unmittelbare Evidenz, dem Mangel der Anderen mit seinen Mitteln abhelfen zu können. Stunden, die nicht in Agonie verbracht wurden, ein brennender Verlust, der erst erlitten werden möchte, ein Haus, das ungesprengt an seinem Platz steht, ein Messer, das noch nicht im Leib eines Beleidigers steckt: diesen Mißständen ist abzuhelfen. Mehr noch als beim Neid, der auf Erniedrigung und Enteignung sinnt, ist beim Zorn (wie beim Haß, der seine Konservierungsform darstellt) eine intensive Hinwendung zum Adressaten im Spiel, und da es sich um authentische Verausgabungen handelt, spricht man zu Recht davon, daß einem Menschen Schmerz »zugefügt« wird. Der zornige Zufüger fühlt sich, vergleichbar einem Prahler, der irgendwann doch ernst
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