Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Täters, kann er es auch schon vergessen. Heißt es nicht von den Brüdern Josephs, nachdem sie ihn nach Ägypten verkauft hatten: »denn ihnen war der Haß genommen, und undeutlich nur, mit der Zeit, gedachten sie noch, wie sehr sie der Gimpel geärgert«? 6 Weil der Zorn zunächst eine endliche Ressource darstellt, ist seine Befriedigung durch die Tat nicht selten der Anfang seines Endes. Das schließt die erbauliche Wendung ein, daß ein Zorn-Täter sich freiwillig der Reaktion der gesetzlichen Mächte ausliefert.
Eine exemplarische Rückkehr des ermüdeten Zornigen zum Erdulden seiner Strafe hat Friedrich Schiller in der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre , 1792, 7 geschildert. Wenn Hegel, ein aufmerksamer Leser der Novelle, nachmals die Strafe als die Ehre des Verbrechers bezeichnete, darf man unmittelbar an Schillers armen »Sonnenwirt«, den bekehrten Wüterich, denken, der einem respektvollen Amtmann in einer sentimentalen Wendung seine wahre Identität offenbart und sich der Justiz ausliefert. Vergleichbares, obschon unter dunkleren Vorzeichen, hat Kleist in Michael Kolhaas vorgeführt, dieser deutschen Geschichte von der Leidenschaft des Rechtbehaltens. Die Erzählung von dem überempfindlichen Rächer seiner zwei gestohlenen Pferde mißt den Bogen aus, durch den der Zorn einer Privatperson bis zu einer Metaphysik der Selbstjustiz getrieben wird. Daß der entfesselte Bürger, der seinen Eigensinn befriedigt sieht, als zufriedener Biedermann aus dem Leben geht: in dieser von Kleist unterstützten Suggestion drückt sich nicht weniger als die Vorahnung der Umwertung aller Werte aus. Die Romantiker, die sich der Ästhetik des Exzesses öffnen, greifen schon früh die Empfindung auf, wonach auf Gottes Gerechtigkeit kein Verlaß mehr ist. Sie zeigen Verständnis, wenn die Beleidigtendieser Erde ihre Beiträge zum Jüngsten Gericht zu Lebzeiten und eigenhändig leisten.
Zorn und Zeit: Die einfache Explosion
Nimmt die Verausgabung des Zorns entwickeltere Formen an, kommt es so weit, daß die Saaten des Zorns bewußt gesät und die Früchte des Zorns mit Sorgfalt geerntet werden. Durch Haß-Kultur wird der Zorn in das Format von Projekten gebracht. Wo Rachevorhaben reifen, lassen sich die dunklen Energien über größere Zeitstrecken stabilisieren. Was Nietzsche über die Genesis des Gewissens sagte: es habe den Menschen, der versprechen kann, zur Voraussetzung, gilt mit noch besserem Recht für das Gedächtnis des Rächers. Dieser ist ein Agent, der sich nicht nur das ihm zugefügte Unrecht merken kann, sondern auch die Pläne zu seiner Heimzahlung. Der Mensch, »der versprechen darf«, ist, Nietzsches beziehungsreicher Charakterisierung zufolge, das Subjekt mit dem »langen Willen«. Hat sich dieses konstituiert, können Rachevorhaben über weitere Zeitstrecken durchgehalten werden – ja, sie sind sogar von einer Generation auf die nächste übertragbar. Wenn die Stufe der Übertragung auf nachfolgende Agenten erreicht ist, hat sich eine authentische Zornwirtschaft herausgebildet. Nun wird das Zorngut nicht mehr zufällig angehäuft und okkasionell verschwendet; es wandelt sich zum Gegenstand einer projektförmigen Produktion und Pflege. Als solcher bildet er einen Schatz, der seinen Besitzern Zugänge zu überpersönlichen Motiven erschließt. Sobald die kollektiv gehüteten Zornmengen die Form von Vorräten, Schätzen oder Guthaben annehmen, liegt es nahe, die Frage zu stellen, ob solche akkumulierten Werte sich auch als investierbare Kapitale verwenden lassen. Wir werden diese Frage weiter unter mit Hilfe einer neuen psychopolitischen Definition der Linksparteien beantworten: Tatsächlich sinddiese als Zornbanken zu verstehen, die, wenn sie sich auf ihr Geschäft verstehen, mit den Einlagen ihrer Klienten machtpolitisch und thymotisch relevante Gewinne erwirtschaften.
Gibt man die Wirklichkeit und Wirksamkeit einer Bank-oder Sparkassenfunktion für die Zornvermögen einzelner Besitzer zu, begreift man auch, wie sich der Zorn von seiner diffusen Anfangsgestalt zu höheren Organisationsgraden entwickeln kann. Durch diese Progression wird nicht allein der Weg von der lokalen und intimen Emotion zu öffentlichen und politischen Programmen zurückgelegt. Auch die Zeitstruktur der Zornpotentiale erfährt eine umfassende Modifizierung. Die Zornmassen durchlaufen die Metamorphose von der blinden Verausgabung im Hier und Jetzt bis zum hellsichtig geplanten weltgeschichtlichen Projekt einer Revolution
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